Führung des Übergangsrates muss rivalisierende Stämme, Demokraten, Islamisten und sehr unterschiedliche Interessen einen.

Hamburg. Was die Rebellen in Libyen nun fürchten, ist ein "katastrophaler Erfolg". Diese seltsame Redewendung fällt offenbar in privaten Gesprächen unter führenden Aufständischen immer wieder, wie der Londoner "Daily Telegraph" berichtete. Es ist die Angst vor der fatalen Situation, dass man zwar den Krieg gegen das Regime habe gewinnen können. Dann aber versage, wenn es gelte, jenes Machtvakuum zu füllen, das Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi hinterlassen habe.

Die Sorge ist keineswegs unbegründet. Die Rebellen, die ihre Offensive gegen die anfangs drückend überlegene Armee Gaddafis nur im Windschatten der Nato-Angriffe vorantreiben konnten, sind weder militärisch noch politisch eine geschlossene Formation. Letzteres schon gar nicht.

Der "Nationale Übergangsrat", der sich nun bereithält, die Macht vom Regime zu übernehmen, ist ein buntes, zu Beginn der Revolte hastig zusammengestelltes Gremium aus Politikern verschiedener Couleurs, Militärs, Stammesführern, Geschäftsleuten und Intellektuellen. Er wurde auf einer Sitzung am 27. Februar in Al Bayda, einer Stadt östlich von Bengasi, formiert. Schon immer war Bengasi, die Hauptstadt der Rebellen-Bewegung, das Gegengewicht zur Hauptstadt Tripolis. Libyen kann grob in zwei rivalisierende Regionen mit diesen beiden großen Städten geteilt werden - und etwas feiner in einen ethnischen Flickenteppich aus rund 140 Stämmen und Clans, die sich zum Teil gar nicht grün sind.

Mustafa Abdul Jalil leitete die Konferenz in Al Bayda. Der ehemalige Justizminister Gaddafis hatte sich gerade abgesetzt. Sein Stellvertreter ist der Jurist und Bürgerrechtler Abdel Hafis Ghoga, der früher Gaddafi-Opfer vor Gericht verteidigte. Eine weitere interessante Figur im Rat ist Ali Tarhouni. Der in Libyen geborene amerikanische Wissenschaftler ist Öl- und Finanzminister der Rebellen sowie ihr Sprecher.

Der aus rund 40 Mitgliedern bestehende Nationale Übergangsrat (NTC) hat die Aufgabe, eine neue Verfassung für Libyen auszuarbeiten und eine zivile Regierung zu stellen. "Aus Sicherheitsgründen" sind nur rund ein Dutzend der Mitglieder öffentlich bekannt.

Nach einem kürzlich ausgearbeiteten Fahrplan soll das Gremium nach dem endgültigen Abgang Gaddafis nach Tripolis übersiedeln und binnen eines Monats die Macht an eine Übergangsregierung abgeben, die sich dann demokratischen Wahlen stellen soll. Nach einem Bericht des "Telegraph" hat ein westlicher Diplomat die Pläne des NTC als "totalen Blödsinn" bezeichnet.

Am 23. März hatte der Übergangsrat die Bildung eines Exekutivrates verkündet, der eine Art Schattenkabinett darstellt. Ihr Vorsitzender ist Mahmud Jibril. Der Wirtschaftswissenschaftler hat in den USA studiert und leitete bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs den Nationalen Wirtschaftlichen Entwicklungsfonds Libyens. Jibril versuchte, das Land wirtschaftlich zu liberalisieren. Doch schon kurz nach Ausbruch der Revolte schloss er sich den Rebellen an. Sein Amt ruht allerdings derzeit, da Übergangsratspräsident Jalil die Schattenregierung am 8. August fürs Erste wieder aufgelöst hat.

Hintergrund war die Ermordung von Rebellen-Verteidigungsminister Abdel Fattah Junis. Der Generalmajor, ehemaliger Innenminister und langjähriger Weggefährte Gaddafis, hatte sich den Rebellen ebenfalls angeschlossen und sie militärisch angeführt. Am 28. Juli wurde er zusammen mit zwei weiteren hohen Rebellenoffizieren offenbar von islamistischen Attentätern erschossen. Auch sie gehörten der Rebellenarmee an. Jalil sprach angesichts mangelnden Aufklärungswillens von "Inkompetenz" des Exekutivrates.

Es wird die größte Herausforderung für eine neue Regierung und das politische Geschick Jalils sein, die Anhänger und Feinde Gaddafis, die Vertreter der einzelnen Stämme, Demokraten und Islamisten unter einen Hut zu bekommen. Zwar ist Gaddafis eigener Stamm, die Gaddhafa, mit 100 000 Seelen nur einer der kleineren; doch es gibt auch größere Stämme, die dem Regime noch gewogen sind.

Zudem wird befürchtet, dass die Islamisten nun versuchen könnten, die Scharia in Libyen einzuführen, dass Clanführer das Machtvakuum ausnutzen könnten, um jahrzehntealte Rechnungen zu begleichen. Und dass die De-facto-Verlagerung der Macht von Tripolis nach Bengasi das Land endgültig zerreißen könnte.