Regierungschef Jens Stoltenberg sucht nach den Anschlägen in Norwegen Weg zurück in die Normalität und will “offenere Demokratie“.

Oslo. Es war 17.42 Uhr am vergangenen Schreckens-Freitag, als die Mutter von Julie Bremnes eine erste Kurznachricht ihrer Tochter bekam. Die 16-jährige Schülerin war eine der Jugendlichen auf der Ferieninsel Utøya. Hinter einem Felsen versteckt, tippte sie verzweifelte Hilferufe in ihr Handy. "Mama, sag der Polizei, dass hier Menschen sterben. Sie sollen sich beeilen." Die Mutter versucht, ihre Tochter zu beruhigen: "Ich kümmere mich, Julie. Die Polizei ist unterwegs. Kannst du mich anrufen?" Die Tochter antwortet knapp mit "Nein" und schiebt dann nach: "Sag der Polizei, dass hier ein Verrückter ist, herumläuft und auf die Leute schießt." Und wieder: "Sie sollen sich beeilen."

46 Botschaften tauschen Mutter und Tochter in den folgenden knapp 90 Minuten aus, bis die Polizei dem Horror ein Ende macht. Die norwegische Zeitung "Verdens Gang" dokumentierte die Konversation, die hautnah die Verzweiflung der Opfer von Anders Behring Breivik belegt. Julie: "Wir haben Angst zu sterben." Mutter: "Ich weiß, mein Liebling. Bleibt in eurem Versteck, geht nirgendwohin. Die Polizei ist schon unterwegs, vielleicht ist sie sogar schon da! Siehst du Verletzte oder Tote?" Julie: "Wir verstecken uns hinter Felsen am Ufer." Und dann: "Ich bin nicht in Panik, aber ich sterbe vor Angst."

Kurz nach 18.15Uhr endlich hoffnungsvolle Nachrichten von der Insel. Julie: "Die Polizei ist hier." Doch die Mutter warnt: "Der Mann, der schießt, trägt offenbar eine Polizeiuniform. Seid also vorsichtig." Erst um 19.01 Uhr gibt Julies Mutter, die die ganze Zeit alle Nachrichten im Fernsehen verfolgt, die erlösende Nachricht durch: "Die Polizei ist jetzt auch im Boot unterwegs nach Utøya. Was mit dem Schützen ist, ist unklar. Also bleibt ganz ruhig. Wartet, bis euch jemand holen kommt." Kurz darauf: "Jetzt haben sie ihn."

Seit vergangenem Freitag vergeht keine Stunde in Norwegen, ohne dass neue Details der Anschläge, die kranken Motive und die Haft des 32-Jährigen bekannt werden. Nach norwegischen Medienberichten wird Breivik in der Haftanstalt Ila bei Sandvika westlich von Oslo festgehalten. Dabei soll er in einer sieben Quadratmeter kleinen Zelle rund um die Uhr überwacht werden, um einen Selbstmord auszuschließen.

"Verdens Gang" berichtete, dass der 32-Jährige hier die erste Hälfte der vorerst acht Wochen Untersuchungshaft mit fast kompletter Kontaktsperre verbringen muss. Nach den Angaben des Gefängnisdirektors Knut Bjarkeid in "Verdens Gang" gibt es in Breiviks Zelle nur Bett, Toilette, Stuhl und einen Tisch. Kontakt mit anderen Gefangenen sei in den ersten vier Wochen ausgeschlossen. In dieser Zeit darf der geständige Attentäter ausschließlich mit seinem Anwalt Geir Lippestad und der Polizei sprechen. Außerdem sollen zwei Rechtspsychiater mit einer mehrmonatigen Untersuchung des Inhaftierten auf seinen Geisteszustand beginnen. Breiviks Verteidiger hatte am Dienstag erklärt, dass er seinen Mandanten für geisteskrank halte.

Gestern Morgen schreckten neue Eilmeldungen die Bürger von Oslo auf: Der Hauptbahnhof wurde zeitweise evakuiert, nachdem ein herrenloses Gepäckstück in einem Bus gefunden worden war. Nach Untersuchungen mit einem ferngesteuerten Roboter stellte sich die Tasche als harmlos heraus. "Es wurde nichts von Interesse für die Polizei gefunden", sagte ein Sprecher. Zuvor hatte die Nachrichtenagentur NTB berichtet, eine unbekannte Person habe offenbar einen Koffer auf einem Bahnsteig abgestellt. Der Zug- und Busverkehr wurde eingestellt. Um den Bahnhof herum zogen Sicherheitsbehörden Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienste zusammen. Die Menschen in Oslo versetzte die Meldung in Schrecken. Für Verwirrung sorgte auch die Warnung der Polizei vor einem Mann, der sich mit Breivik identifiziert haben soll. Die Warnung sei irrtümlich herausgegeben worden, sagte ein Polizeisprecher. Die Polizei fahnde nur nach einem Mann, der geistig erkrankt sei und nichts mit Breivik zu tun habe.

Doch so aufmerksam die Norweger auch jedes Detail des Doppelanschlags und seine Auswirkungen verfolgen, herrscht vor allem ein Gefühl vor: Das Land wird sich von den Taten eines Irren nicht in seinen Überzeugungen abbringen lassen. "Norwegen wird sich nicht einschüchtern lassen", versprach Ministerpräsident Jens Stoltenberg am Mittwoch bei einer Pressekonferenz.

Nach einer Zeit der Trauer würden die Reaktion der Polizei und die Sicherheitsmaßnahmen auf den Prüfstand gestellt, kündigte Stoltenberg an. Er begrüße die Diskussion über die Sicherheit. "Es ist absolut möglich, eine offene, demokratische und alle Menschen einschließende Gesellschaft zu haben und gleichzeitig Sicherheitsmaßnahmen umzusetzen und nicht naiv zu sein", sagte Stoltenberg. Er sei auch überzeugt, dass die Anschläge vom Freitag das Interesse der Norweger an Politik stärken würden: "Es ist für uns klar, dass es in Norwegen eine Zeit vor und eine Zeit nach dem 22. Juli gibt." Er habe seit letztem Freitag "viele wichtige Signale" dafür erlebt, dass Norwegen nach den Terroranschlägen "eine noch offenere und tolerantere Demokratie sein wird als vorher". Als Beispiel nannte der Premier massive Eintritte bei politischen Parteien in Norwegen als Reaktion auf den Terror.

SMS-Protokoll erzählt von schockierenden 75 Minuten

Stoltenberg kündigte zugleich eine "umfassende Aufarbeitung" aller Umstände an. Diese Zeit sei aber jetzt nicht gekommen: "Noch geht es darum, die Angehörigen der Opfer zu trösten und den vielen Verletzten beizustehen." Der Regierungschef betonte, er habe seit dem Freitag "nur sehr wenig" an den inhaftierten Attentäter gedacht. Stoltenberg kannte mehrere der überwiegend jugendlichen Opfer des Massakers auf Utøya aus seiner Partei persönlich. Wenn "die Zeit des Tröstens und Trauerns", aber auch die der polizeilichen Ermittlungen abgeschlossen sei, werde er offen sein für alle erdenklichen Diskussionen über Konsequenzen aus dem Geschehen. Kritik an der Arbeit der Polizei übte Stoltenberg mit keinem Wort. Andere Politiker versuchten den Alltag nicht von Breiviks grauenvollen Taten dominieren zu lassen. Rigmor Aaserud, Kabinettsmitglied, nahm in einem symbolischen Akt gestern die Arbeit in ihrem Büro in dem schwer beschädigten Regierungsviertel wieder auf. Stoltenberg verlegte sein Büro in das etwas entfernt gelegene Verteidigungsministerium. Die Autobombe hatte ein Loch in die Wand seines Büros im 17-stöckigen Regierungshauptgebäude gesprengt. Offen ist noch, ob der Hochbau abgerissen oder saniert wird. Die Kabinettssitzungen wurden in eine mittelalterliche Burg verlegt. Die Polizei gab in der Innenstadt einige Straßen um den Ort der Explosion wieder frei.

Auf dem Hof des Attentäters im rund 160 Kilometer von Oslo entfernt gelegenen Rena brachte die Polizei Sprengstoff zur Explosion. Die Polizei vermutet, dass Breivik Dünger zur Herstellung von Sprengsätzen benutzte. Nach Erkenntnissen des norwegischen Geheimdienstes handelte Breivik als ein Einzeltäter, der mit Berechnung getötet hat. Für seine Behauptung, gewaltbereite Komplizen in Norwegen und im Ausland zu haben, fehlt weiter jeder Beweis.