Die verwendete Munition sind spezielle Projektile, die besonders schwere innere Verletzungen anrichten. Auch ein Polizist außer Dienst war unter den Opfern.

Honefoss/Oslo/Berlin//Sundvollen/Norwegen. Der norwegische Attentäter setzte bei dem Massaker auf der Insel Utöya nach Angaben eines Chirurgen sogenannte Dum-Dum-Geschosse ein - spezielle Projektile, die im Körper des Getroffenen zerfallen und besonders schwere innere Verletzungen anrichten. Chirurgen, die 16 Personen mit Schussverletzungen behandelten, hätten bislang keine vollständigen Geschosse aus den Körpern der Patienten gezogen, sagte Colin Poole, Chefarzt der Chirurgie am Ringriket-Krankenhaus in der nordwestlich von Oslo gelegenen Stadt Honefoss.

«Diese Projektile sind mehr oder weniger im Innern des Körpers explodiert», sagte Poole der Nachrichtenagentur AP. «Diese Projektile fügten inneren Schaden zu, der absolut entsetzlich ist», sagte der Arzt.

Eines der ersten Opfer auf der Insel Utöya war ein Polizist außer Dienst. Laut der Polizeigewerkschaft war der Mann im Auftrag der Leitung des Sommerlagers in seiner Freizeit dort als private Sicherheitskraft tätig. Seine Identität wollte der Osloer Gewerkschaftsvorsitzende Sigve Bolstad nicht bekannt geben.

Der Umstand wirft ein neues Licht auf die Verwirrung, die nach Auskunft Überlebender während des 90-minütigen Blutbads herrschte. Der Attentäter, der zuvor in Oslo eine Bombe gezündet hatte, war auf der Insel als Polizist verkleidet aufgetreten. Einige Teilnehmer des Camps hatten in dem Durcheinander bei ihm Schutz suchen wollen und waren erschossen worden.

Das Manifest des Attentäters

Es sind die Gedanken eines rechtsradikalen Wirrkopfs. Auf über 1.500 Seiten hat der 32-jährige mutmaßliche Massenmörder von Oslo und Utoya, Anders Behring Breivik, seine Thesen zu Papier gebracht. „2083 – A European Declaration of Independence“ heißt das unter dem Pseudonym Andrew Berwick verfasste Manuskript, dass er etwa eine Stunde vor dem Bombenanschlag im Osloer Regierungsviertel per e-Mail an diverse Empfänger verschickte, darunter auch Parlamentsabgeordnete der rechtspopulistischen finnischen Partei der „Wahren Finnen“.

Schon auf der Titelseite des Machwerks weisen eine lateinische Widmung und ein rotes Malteserkreuz den Weg in die Gedankenwelt des Massenmörders: Breivik, dessen Weltbild von einem norwegischen Polizeisprecher vielleicht etwas vorschnell als „christlich-fundamentalistisch“ skizziert wurde, sieht sich als Kreuzfahrer: Er skizziert die Gründung eines neuen Templerordens, der Norwegen und Europa vor der Islamisierung und dem kulturellen Marxismus retten will. Sein Manifest vermischt den Stoff von Fantasy-Romanen und die Handlungsabläufe von als Ego-Shootern bezeichneten Computerspielen mit rechtsextremem Gedankengut und Verschwörungstheorien.

Der Attentäter soll auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) als mögliches Ziel gesehen haben. In seinem Manifest habe B. namentlich die Kanzlerin erwähnt sowie allgemein die SPD, Linke und Grünen als mögliche Anschlagsziele benannt, berichtet die «Hamburger Morgenpost» (Montagausgabe). Der Verfassungsschutz bestätigte dem Blatt, dass in dieser Sache ermittelt wird. Es gehe um «mögliche Kontakte» des Attentäters zur rechten Szene in Deutschland.

Und auch die Kirchen kommen in Breiviks Manifest nicht zu kurz: „Sechs Dekaden der marxistischen Doktrin des Kulturrelativismus und des egalitären Denkens haben besonders die protestantischen Kirchen Europas infiziert“, schreibt der norwegische Massenmörder. „Das hat zu einer Situation geführt, in der die Mehrheit der Protestanten, mich eingeschlossen, jeden Respekt vor der protestantischen Kirche verloren hat.“

Breivik ruft zu einer Rückkehr nach Rom auf und sieht den Papst als obersten Kreuzfahrer und Verteidiger der Kirche. In seinem kruden Weltbild tritt er für eine romantisch-verklärte, starke katholische Kirche ein, wie sie etwa im Mittelalter in Europa anzutreffen war – und für einen säkularen Staat, in dem sich die Christen nicht in Fragen der Politik einmischen sollten. Dass es in diesem Denkmodell einen Widerspruch gibt, ist dem norwegischen Massenmörder offenkundig nicht bewusst.

Doch ohnehin deutet vieles von dem, was über den Attentäter von Oslo und Utoya bislang bekannt ist, auf einen eher verwirrten Zeitgenossen hin, der zum Einzelgängertum neigte und viele seiner vermeintlichen Kenntnisse obskuren Internetforen entnahm. Breivik war Mitglied in einem Schützenverein, in einer Freimaurerloge und der rechtspopulistischen „Fremskridtsparti“, das haben alle drei Organisationen mittlerweile offiziell bestätigt. Nach dem schwersten Attentat in der Geschichte Norwegens gaben Loge und Partei zu Protokoll, dass man sich zwar an Anders Behring Breivik irgendwie erinnern könne – aber nicht an irgendwelche Aktivitäten. Nur in rechtsradikalen Internetforen hinterließ der norwegische Attentäter öfter seine Spuren.

Das passt durchaus zum Tonfall, zum Aufbau und dem Inhalt seines Manifests: Das Machwerk des Massenmörders wirkt in erster Linie wie das Pamphlet eines Menschen, der sich mit Hilfe der modernen Medien sein ganz persönliches Weltbild zurechtgebogen hat – ein Weltbild, das selbst christliche Fundamentalisten aus den Reihen der umstrittenen Pius-Bruderschaft oder amerikanischer Evangelikaler nicht mit Anders Behring Breivik teilen würden. Weil es viel zu viele, teils viel zu gegensätzliche und als solche unvereinbare Sichtweisen miteinander mischt.


Schweigeminute für Anschlagsopfer in Norwegen

Ganz Norwegen will der fast hundert Toten an diesem Montag mit einer Schweigeminute gedenken. Das kündigte Ministerpräsident Jens Stoltenberg am Sonntag nach einem Gespräch mit König Harald V. in Oslo an.

Wie die Zeitung „Dagbladet“ weiter in ihrer Online-Ausgabe berichtete, hat auch die Regierung im benachbarten Schweden die Bevölkerung zu der Schweigeminute um 12.00 Uhr aufgerufen. Wenig später soll der geständige Attentäter Anders Behring Breivik in Oslo einem Haftrichter vorgeführt werden.

Augenzeugenberichte des Unglücks

Mindestens 92 Menschen sind bei den Attentaten in Norwegen ums Leben gekommen. Besonders die Jugendlichen auf der Ferieninsel Utøya erlebten grausame Stunden. Die Nachrichtenagentur dpa und der norwegische Fernsehsender NRK sprachen mit Augenzeugen:

Peter Linge Hessen: "Dann rief ein Kumpel, dass wir um unser Leben rennen müssen. Wir haben alle Kleidung mit starken Farben ausgezogen. Ich hörte Leute zum Wasser rennen, habe sie aber nie schwimmen gesehen. Ich hörte den Attentäter schießen und fragte mich, wann ihm die Munition ausgeht, aber das passierte nicht. Ich habe versucht zu schwimmen - auf dem Rücken, damit ich sehen konnte, was auf der Insel passiert. 10 bis 20 Körper lagen da. Sie bewegten sich nicht. Ich weiß nicht, ob sie sich versteckten oder tot waren.“

Magnus Stenseth (18), Regionalleiter der Jugendorganisation AUF: " Er kam den Hügel hoch und war nur 20 Meter von mir entfernt. Ich sah ihm genau in die Augen, er lud die Waffe, richtete sie auch mich und einige andere und schoss. Ich weiß nicht, ob jemand getroffen wurde. Es sah aus, als habe er Spaß. Das macht alles noch schlimmer. Er lief über die Insel als sei er allmächtig. Und das war er auch, weil wir wehrlos waren.“

Prableen Kaur vom Osloer AUF: "Ich habe Mama angerufen und gesagt, dass wir uns vielleicht nie wieder sehen und dass ich sie liebe. Sie weinte, das tat weh. Andere sprangen ins Wasser. Ich blieb liegen, das Handy in der Hand. Ich lag auf einer Leiche, zwei andere Tote auf meinen Beinen.“

Camporganisator Adrian Pracon (21): "Wir dachten, es wäre gut, die Polizei auf der Insel zu haben. Bis der Polizist plötzlich anfing, auf Leute zu schießen. Er stand da und zielte mit dem Gewehr auf meinen Kopf. Ich flehte, dass er nicht abdrückt. Und er tat es nicht. Er war sehr ruhig, er war entspannt und kontrolliert. Es schien, als kümmerte es ihn gar nicht richtig.“

Nicoline Bjerge Schie (22): „Ich hab ihn nicht gesehen, aber gehört. Er schrie und jubelte und gab mehrere Siegesrufe von sich.“

Thorbjørn Vereide (22): „Er hat darauf geachtet, auf alle immer zweimal zu schießen.“

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Anders B., bei dessen Anschlägen in Norwegen mindestens 92 Menschen ums Leben kamen, hat seine Taten als "grausam, aber notwendig“ bezeichnet. Kurz vor der Bombenexplosion im Osloer Regierungsviertel und dem Massaker in einem sozialdemokratischen Jugendferienlager hatte er in einem 1500 Seiten starken "Manifest“ Terroraktionen zur "Rettung Europas vor dem Kulturmarxismus und der Islamisierung“ angekündigt, berichtete der TV-Sender NRK in Oslo.

Der Verteidiger des 32-jährigen Norwegers, Geir Lippestad, sagte am Sonntag im Sender TV2, die Äußerungen des Attentäters in dem mehrstündigen Polizeiverhör seien zum Teil unverständlich gewesen. "Es ist ausgesprochen schwer für mich, eine vernünftige Zusammenfassung von dem zu geben, was er in dem Verhör gesagt hat.“

Der Attentäter hatte am Sonnabend die Täterschaft bei beiden Anschlägen zugegeben. Er will sie allein ausgeführt haben. Am Freitag hatte er im Osloer Zentrum erst eine Autobombe explodieren lassen, die mindestens sieben Menschen tötete. Danach fuhr er zum 40 Kilometer entfernten Tyrifjord, setzte als Polizist verkleidet auf die kleine Insel Utøya über und erschoss mit zwei legal erworbenen Waffen mindestens 85 Menschen in einem Ferienlager der sozialdemokratischen Jugendorganisation AUF.

Das Massaker dauerte anderthalb Stunden, ehe B. sich freiwillig Antiterrorspezialisten der Polizei ergab. Sein Anwalt Lippestad meinte zu den Verhören in TV2: "Man hat ihm das unglaubliche Ausmaß des Schadens und die Zahl der Toten erklärt. Seine Reaktion war, dass er die Ausführung der Tötungen als grausam, aber in seinem Kopf als notwendig erachtete.“

Aussagen des Norwegers zu seinem Motiv für die beiden furchtbaren Anschläge wollte der Anwalt nicht öffentlich wiedergeben, ehe er sie nicht noch einmal genau durchdacht habe. Wenige Stunden vor dem ersten Anschlag hatte der Attentäter an mehrere Adressaten als Mail sein "Manifest“ mit dem Titel "2083. A European Declaration of Indepence“ (“2083. Eine europäische Unabhängigkeitserklärung“) verschickt. Darin schrieb er nach Angaben von NRK unter anderem, er wolle Europa "vor Kulturmarxismus und Islamisierung retten“.

Dem norwegischen Geheimdienst PST soll der nach dem Massaker auf der Insel Utøya festgenommene Anders B. bis zu den Anschlägen völlig unbekannt gewesen sein. Das berichteten die Zeitungen "VG“ und "Dagbladet“ unter Berufung auf mehrere Quellen. Der 32-Jährige hatte unter anderem auf einem Hof in der Nähe von Oslo sechs Tonnen Kunstdünger zur Herstellung von Sprengstoff gelagert. (dpa)