Der Befehl des deutschen Oberst Klein bringt die Kanzlerin in Bedrängnis. Auch Ex-Außenminister Steinmeier spielt in der Kundus-Affäre eine Rolle.

Berlin. Es klingt angesichts der Opfer makaber, und doch ist es aus politischer Sicht das große Finale im Kundus-Untersuchungsausschuss: Die Opposition will von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wissen, ob sie Informationen über zivile Opfer des Luftangriffs kurz vor der Bundestagswahl 2009 verheimlicht hat. SPD und Grüne haben kurz vor ihrem Auftritt im Untersuchungsausschuss klare Aussagen zu ihrer Rolle bei der Aufklärung des Luftangriffs in Afghanistan verlangt. Dabei geht es vor allem um die Frage, wann die Kanzlerin von zivilen Opfern des vom deutschen Oberst Georg Klein befohlenen Bombardements am 4. September 2009 erfuhr. Merkel und der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) sind am Donnerstagnachmittag die letzten von insgesamt 40 Zeugen des Ausschusses.

Steinmeier ist heute SPD-Fraktionschef. Bei der Bombardierung zweier von Taliban entführter Tanklaster nahe der nordafghanischen Stadt Kundus gab es mehr als 100 Tote und Verletzte, darunter viele Zivilisten. Eine entscheidende Frage ist, ob die Regierung vor der Bundestagswahl am 27. September 2009 bewusst Informationen über zivile Opfer zurückhielt, um ihre Wahlchancen nicht zu beeinträchtigen. SPD-Verteidigungsexperte Rainer Arnold kritisierte im Südwestrundfunk, Merkel habe bei der Aufklärung nicht von ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch gemacht. „Sie hat sich hier auch ein bisschen weggeduckt.“ Zudem habe sie den damaligen Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) nicht gebremst, als er die Wahrheit über die Tragödie vernebelt habe.

Die SPD wolle von Merkel außerdem wissen, ob sie den Angriff für angemessen halte – und falls nicht, warum, sagte Arnold. Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) hatte den Luftschlag zunächst als militärisch angemessen bezeichnet, diese Einschätzung aber später revidiert. Guttenberg war zum Zeitpunkt des Luftschlags noch nicht Verteidigungsminister, aber unmittelbar nach seinem Amtsantritt mit der Bewertung und Aufarbeitung befasst.

Die Grünen wollen klären, warum Jung zivile Opfer auch dann noch in Zweifel zog, als Merkel bereits eine solche Möglichkeit eingeräumt hatte. „Wenn ein Minister in der Frage von Leben und Tod etwas Falsches sagt, muss die Bundeskanzlerin ihre Richtlinienkompetenz wahrnehmen“, sagte der Grünen-Verteidigungsexperte Omid Nouripour. Es gehe dabei nicht um die Frage, ob Merkel zurücktreten solle. „Es geht um die Lehren aus dieser Katastrophe und den Informationspannen.“ Auch heute noch sei die Kommunikation zwischen Auswärtigem Amt, Verteidigungsministerium und Kanzleramt schlecht.

Wenige Stunden nach dem Angriff habe das Kanzleramt Informationen des Bundesnachrichtendienstes erhalten, wonach mit toten Zivilisten zu rechnen sei. „Ich gehe davon aus, dass die Kanzlerin bereits am 4. September von zivilen Opfern wusste“, sagte Nouripour. Das Auswärtige Amt habe einige Tage später eine Liste mit den Namen ziviler Opfer bekommen. Dann habe die Regierung vor der Bundestagswahl am 27. September aber nicht mehr klar darüber gesprochen. Es sei vermutlich befürchtet worden, dass die Linke, die den Afghanistan-Einsatz strikt ablehnt, bei der Wahl Zulauf bekommen könnte. Bis zur Wahl gab es für die Öffentlichkeit keine detaillierten Informationen der Regierung über den Angriff und die Opfer. Das Verteidigungsministerium hatte tagelang mitgeteilt, es gebe keine Beweise für zivile Opfer. Merkel erklärte schnell, falls Zivilisten getroffen worden seien, würde die Regierung dies bedauern.

Afghanische Aufständische hatten in der Nacht zum 4. September 2009 nahe der Stadt Kundus zwei Tanklaster mit Treibstoff für die internationale Isaf-Truppe in ihre Gewalt gebracht. Die beiden Laster wurden wenig später auf einer Sandbank im Kundus-Fluss entdeckt, wo sie sich festgefahren hatten. Bei der Bundeswehr gab es, wie der verantwortliche Oberst Klein später aussagte, die Befürchtung, die voll beladenen Lastwagen könnten zu Bomben umfunktioniert und für einen Anschlag auf das nahe gelegene Feldlager der deutschen Soldaten genutzt werden. Deswegen seien US-Kampfbomber angefordert worden, die auf Anweisung Kleins knapp eine Stunde nach dem Überfall die Tanklaster bombardierten.

Während in ersten Darstellungen der Bundeswehr nur davon die Rede war, es hätten sich zum Zeitpunkt des Angriffs Aufständische auf der Sandbank aufgehalten, vermittelten afghanische Berichte ein anderes Bild. Demnach waren auch viele unbeteiligte Zivilisten herbeigeströmt, entweder aus Neugierde oder um aus den Fahrzeugen Benzin abzuzapfen. Zahlreiche dieser Menschen kamen durch das Bombardement beziehungsweise die dadurch ausgelöste Explosion der Tanklaster ums Leben.

Zu den genauen Umständen des Angriffs gibt es immer noch viele Spekulationen. Unklar ist beispielsweise die Rolle der Bundeswehr-Sondereinheit „Task Force 47“ und der an ihr maßgeblich beteiligten Elitetruppe KSK. So gibt es Mutmaßungen, bei dem Angriff sei es in Wahrheit um die gezielte Tötung von auf der Sandbank vermuteten Taliban-Führern gegangen.

Klar ist, dass Klein und wohl auch andere beteiligte Bundeswehr-Soldaten gegen Einsatzregeln verstießen. So wurde den US-Piloten vorgegaukelt, deutsche Soldaten seien in Gefechte mit den Aufständischen verwickelt, um den Luftangriff so zu rechtfertigen. Dies war jedoch nicht der Fall.

Der neue Verteidigungsminister Guttenberg löste im November 2009 seinen Staatssekretär Peter Wichert und Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhahn ab, weil diese ihm Informationen vorenthalten hätten. Gegen Oberst Klein wurden strafrechtliche Ermittlungen aufgenommen. Die Bundesanwaltschaft stellte diese jedoch später ein, weil das Bombardement im Rahmen „völkerrechtlich zulässiger Kampfhandlungen“ erfolgt sei. Die Familien der afghanischen Opfer des Angriffs erhielten nach langem Ringen von der Bundeswehr eine Entschädigung von je 5000 Dollar (etwa 3900 Euro) zugesprochen. Anwälte der Opfer fordern jedoch weiterhin höhere Zahlungen. Zudem kritisieren sie, dass auch das bereits zugesagte Geld bei Betroffenen nicht ankomme.