Im Schnellverfahren könnten bereits fünf Euro mehr ausgezahlt und das Bildungspaket gebilligt werden. Doch landet Hartz IV jetzt wieder in Karlsruhe?

München/Berlin. Das Bundesverfassungsgericht wird sich nach Einschätzung von Juristen möglicherweise schon bald erneut mit Hartz IV befassen müssen. Jürgen Borchert, Vorsitzender Richter am Landessozialgericht Hessen, sagte der „Süddeutschen Zeitung“, nach dem vorläufigen Scheitern der Hartz-IV-Verhandlungen herrsche wegen des Verfassungsgerichtsurteils vom Februar 2010 nach wie vor kein verfassungsgemäßer Zustand. Die Karlsruher Richter hatten eine Neuberechnung der Hartz-IV-Sätze bis Ende 2010 gefordert. „Wenn ein Betroffener sein Existenzminimum einklagt, müsste nach meiner Überzeugung jedes Sozialgericht wegen der Regelbedarfe den Fall dem Bundesverfassungsgericht vorlegen“, sagte Borchert. Das Existenzminimum, wie es nach dem vorerst weiter geltenden Gesetz gewährt werde, entspreche nicht den Vorgaben des Grundgesetzes. „Das Bundesverfassungsgericht könnte diesen Schwebezustand mit einer einstweiligen Anordnung beenden“, sagte der Richter.

Aus Borcherts Senat stammte einer jener Fälle, die zum Hartz-IV-Urteil führten. Regierung und Opposition waren in der Nacht zu Mittwoch ohne Einigung auseinandergegangen und hatten sich anschließend gegenseitig die Schuld für das Scheitern der Gespräche gegeben.

Borchert hält es zudem für möglich, dass die Sozialgerichte bedürftigen Kindern schon jetzt Teile jener Leistungen gewähren, die im Bildungspaket der diskutierten Neuregelung vorgesehen sind. „Bei den Bildungsbedarfen für Kinder halte ich daher auch einstweilige Anordnungen unmittelbar durch die Sozialgerichte für möglich, weil hier sonst der endgültige Rechtsverlust droht. Bei Bildung zählt jeder Tag“, sagte der Richter.

Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck (SPD) hat der der Regierung einen „Betrugsversuch“ vorgeworfen. Die Zusage, im Falle einer Verabschiedung der Reform durch den Bundesrat die Kosten für die Grundsicherung im Alter zu übernehmen, sei schon einmal gemacht worden, sagte Beck im Deutschlandfunk und sprach von „einem vergifteten Paket“. Zugleich signalisierte er Entgegenkommen, sollte die Bundesregierung beim Regelsatz nachbessern und eine Gegenfinanzierung für das Bildungspaket anbieten.

In der vorliegenden Form werde sein Land der Reform am Freitag im Bundesrat jedoch nicht zustimmen, da die Kommunen über den Tisch gezogen werden sollten, betonte Beck. „Ich glaube, dass es eines neuen Anlaufs bedarf. Dafür werde ich mich einsetzen“, fügte er hinzu.

Der SPD-Politiker warf Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) „Sturheit und Parteitaktik“ vor. Die Kanzlerin habe sich geweigert, Gespräche mit den Ländern und der Opposition zu führen. Hauptverantwortlich für das Scheitern der Verhandlungen sei allerdings Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU), die ihre Vorschläge zur Umsetzung des Verfassungsgerichtsurteils aus dem vergangenen Jahr erst im Herbst vorgelegt habe. „Entweder sie wollte uns unter Druck setzen oder es war Streit in der Koalition“, sagte Beck. Dies sei der Grund gewesen für den Zeitdruck „und das Chaos, das wir jetzt hier haben“. Auch sei die Koalition zerstritten gewesen.

Der SPD-Politiker sprach sich dafür aus, zumindest die von der Koalition in Aussicht gestellte Erhöhung des Regelsatzes um fünf Euro rückwirkend zum 1. Januar auszuzahlen. „Denn eine begünstigende Leistung kann man auch im Vorgriff auf eine gesetzliche Regelung auszahlen“, sagte der SPD-Politiker.

Der Verhandlungsführer der Grünen, Fritz Kuhn, warf der Bundesregierung im Hamburger Abendblatt vor, mehrere Länder mit finanziellen Mitteln auf ihre Seite ziehen zu wollen. Die Regierung scheine zu versuchen, „das eine oder andere Bundesland rauszukaufen, um im Bundesrat eine Mehrheit für ihr Paket zu bekommen“, sagte der Fraktionsvize. Er machte deutlich: „Es geht dabei nicht nur ums Saarland, sondern auch um Länder wie Sachsen-Anhalt, Thüringen und Nordrhein-Westfalen.“ Aufgrund vieler Gespräche mit Politikern aus diesen Ländern sei er zuversichtlich, dass es der Regierung nicht gelingen werde, ein Land auf ihre Seite zu ziehen.

FDP-Generalsekretär Christian Lindner warnte die Ministerpräsidenten im Hamburger Abendblatt die Länder davor, die Reform im Bundesrat scheitern zu lassen. Wenn das Angebot nicht angenommen werde, würden die Bedingungen nächstes Mal andere sein, sagte Lindner, der zugleich an die Verantwortung der Länder für ihre Kommunen erinnerte: Es gehe um ein Bildungspaket für Kinder und insgesamt zwölf Milliarden Euro für die klammen Kommunen. „Wenn es die Ministerpräsidenten damit ernst meinen, dass sie ihren Kommunen helfen wollen, sollten sie hier nicht ablehnen.“

Der Deutsche Gewerkschaftsbund will mögliche Klagen von Gewerkschaftsmitgliedern gegen die Hartz-Reform unterstützen. „Das Verfahren der Bundesregierung ist verfassungswidrig und wir werden uns nicht scheuen, das vom Bundesverfassungsgericht noch einmal bestätigen zu lassen“, heißt es in einem Schreiben von DGB-Chef Michael Sommer an Mitarbeiter seiner Organisation. Sommer gibt darin der schwarz-gelben Koalition die Schuld am Scheitern der Hartz-IV-Reform. Die Bundesregierung habe wieder einmal Fortschritte bei der Bekämpfung von Niedriglöhnen und Armut blockiert. „Meine Sorge ist, dass dadurch die Politik insgesamt noch mehr an Ansehen verliert.“

Mit Material von epd und dpa