Arabischer Frühling in Berlin: 400 Demonstranten fordern Bundespräsidenten Christian Wulff mit erhobenen Schuhen zum Rücktritt auf.

Berlin. Nun scheint der Arabische Frühling auch in Berlin angekommen zu sein. Zumindest das Symbol des Protest-Schuhs. Denn gerade in islamischen Kulturen haben Schuhe als Protestsymbol eine gewisse Tradition. Sie gelten unter Muslimen als unrein und müssen etwa beim Betreten einer Moschee immer ausgezogen werden.

Dem Sitznachbarn beim Fläzen im Stuhl seine Schuhsohle zuzuwenden ist deshalb verpönt. Jemanden gar mit Schuhen zu bewerfen, ist eine ganz besonders schlimme Form, Verachtung zu bekunden. So gingen nach dem Sturz des irakischen Machthabers Saddam Hussein im April 2003 Bilder um die Welt, wie Iraker mit Schuhen auf dessen Statue einschlugen.

Am Sonnabend haben nun rund 400 Demonstranten vor dem Schloss Bellevue in Berlin mit hochgetreckten Schuhen Bundespräsident Christian Wulff zum Rücktritt aufgefordert. Wäre das Staatsoberhaupt im Schloss Bellevue gewesen, hätte er die Protestrufe bis in sein Büro hören können. Aber der Bundespräsident war am Sonnabend außer Haus und verpasste deshalb den ungewöhnlichen Massenauflauf vor seinem Amtssitz. 400 empörte Demonstranten forderten aus Ärger über seine Amtsführung und die jüngsten Affären den Rücktritt des Staatsoberhaupts und reckten als Zeichen ihres Protests Dutzende Schuhe in die Höhe – eine Geste, die im arabischen Raum als besonders drastische Form des Zorns und der Verachtung gilt.

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"Der Unmut der Bevölkerung steigt und entlädt sich in Kreativität“, erklärt Martin Heidingsfelder das Motiv des ungewöhnlichen Protests. Kurz vor Weihnachten hatte er mit einer eigens eingerichteten Facebook-Seite zu der Aktion aufgerufen – und kaum einen Effekt erzielt. Zwei Mal sei die Demonstration "wegen fehlender Resonanz“ verschoben worden.

Der entscheidende Schub kam demnach erst am Mittwochabend. Zur besten Sendezeit schwadronierte sich Wulff in seinem schon heute legendären Fernsehinterview bei ARD und ZDF endgültig ins Abseits - und das Interesse an Heidingsfelders Facebook-Gruppe "Wulff den Schuh zeigen“ stieg rasant an. Bis Sonnabendnachmittag meldeten über 800 Sympathisanten ihre Unterstützung an. Letztlich kamen laut Polizei auch gut halb so viele, immerhin.

Und die gehen mit dem Bundespräsidenten alles andere als zimperlich um. Auf ihren Plakaten wird Wulff zum Sieger in der Disziplin des "Präsi-Dreikampf: Geschenkannahme, Nötigung, Heuchelei“ und "inhaltsfreien, würdelosen Bundespräsidentendarstellerazubi“ degradiert.

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"Wulff muss weg“ schallt es unisono aus den Kehlen der Entrüsteten. Und Jürgen Jänen weiß genau warum. "Normalerweise hätten die Parteien seinen Rücktritt erzwingen müssen, jetzt tun es die Bürger eben selbst“, sagt der 43-Jährige, dessen Verein "Creative Lobby for Future“ die Demonstration angemeldet hatte. Besonders die Privatfehde Wulffs mit der "Bild“-Zeitung wegen des Wutanrufs bei Chefredakteur Kai Diekmann und der daraus resultierenden Mailbox-Peinlichkeit bringt Jänen auf die Palme: "Ich möchte nicht, dass ein Bundespräsident etwas sagt und ein Boulevardblatt die Deutungshoheit darüber hat“, empört er sich. "Der Diekmann spielt doch mit dem Wulff!“

Jänens Verein fördert Demokratieprojekte und will den Nachwuchs für Engagement in Parteien und gemeinnützige Organisationen begeistern. Mit seiner Amtsführung aber, sagt er und schaut säuerlich, sabotiere Wulff diese Arbeit und verschlimmere die Politikverdrossenheit. Jänen und Heidingsfelder sind selbst zwar SPD-Mitglieder, weisen parteipolitische Motive für ihren Protest aber vehement zurück: Hier gehe es um das Prinzip und nicht um Stimmenfang, lautet ihr Credo.

Etwas anders sieht das nebenan bei den pöbelnden Anhängern der rechtspopulistischen Gruppierung Die Freiheit aus. Die islamkritische Partei versucht sich als Trittbrettfahrer des Volkszorns und hat ihren Namen auf dem eigenen Plakat größer geschrieben als ihre politische Botschaft "Wulff muss weg“. Einige Anhänger keifen "Komm raus, du schäbiger Lump“ über den Zaun des Bellevue und noch weit weniger Zitierfähiges. Die Veranstalter reagieren mit einer distanzierenden Lautsprecherdurchsage: "Die Freiheit hat nichts mit uns zu tun.“

So geht das etwa eine halbe Stunde lang: Die Demonstranten ärgern sich erst über Wulff, dann übereinander und schließlich nur noch über das Wetter. Wegen des nächtlichen Regens hat sich keiner ohne Schuhe und auf Socken vor das Schloss getraut. Das nasskalte Januarwetter lässt die Wutbürger dann doch lieber zum eigens mitgebrachten Zweitpaar greifen.

Heidingsfelder will die ausrangierten Treter später ans Bundespräsidialamt schicken. Sagt er jedenfalls.

Von Marc Kalpidis

Weitere Schuh-Proteste im Überblick

Zu internationaler Berühmtheit gelangte im Dezember 2008 der irakische Journalist Muntadhar al Seidi: Auf einer Pressekonferenz in Bagdad schleuderte er George W. Bush sein Fußwerk entgegen und bedachte ihn in arabischer Sprache mit den wenig schmeichelhaften Worten: "Das ist Dein Abschiedskuss, Du Hund! Das ist von den Witwen, den Waisen und all denen, die im Irak getötet wurden!“

Damit wurde er über Nacht zum Helden jener Bevölkerungsgruppen in der arabischen Welt, die den Irak-Krieg und die Besatzungspolitik der USA in der Region ablehnten – musste aber trotzdem für neun Monate ins Gefängnis. Zwar wich Bush den zweckentfremdeten Tretern geschmeidig aus, al Seidis Protestaktion indes fand wegen ihres Symbolcharakters auch in anderen Ländern zahlreiche Nachahmer.

Etwa in England, wo im Februar 2009 ein deutscher Student den damaligen chinesischen Ministerpräsidenten Wen Jiabao mit einem Schuh bewarf und so gegen dessen Rede an der Universität Cambridge protestierte. Oder wenige Tage darauf in der Uni Stockholm: Dort wurden zwei Unruhestifter festgenommen, die erst das Flugverhalten eines Schuhs und dann die ballistische Kurve eines Buchs in der Praxis erforschten – zum Leidwesen des israelischen Botschafters in Schweden, den die Störer als prominentes Ziel auserkoren hatten.

Dass Journalisten nicht immer in der Lage sind, professionelle Distanz zu bewahren, stellte wiederum zwei Monate später ein indischer Medienvertreter unter Beweis. Auf einer Pressekonferenz in Neu-Delhi nahm er den Innenminister des Landes aufs Korn und verfehlte mit seinen blau-weißen Turnschuhen nur knapp dessen Gesicht. Der krisengestählte Politiker ließ sich nichts anmerken und ging nach der Festnahme des Mannes wieder zu den Fragen der Journalisten über.

Bevor Dominique Strauss-Kahn ins Zwielicht einer Sex-Affäre rückte, zog er sich Ende 2009 als Chef des Internationalen Währungsfonds den Unmut türkischer Studenten zu. Bei einer Veranstaltung in Istanbul schimpfte ein politisch engagierter Jungakademiker "IWF, hau ab!“ und attackierte den Franzosen mit seinem Sportschuh. Der sauste aber ins Leere. Sicherheitsbeamte konnten den Demonstranten überwältigen.

Glück hatte auch der für seine kontroversen Äußerungen berüchtigte türkische Regierungschef Erdogan bei einer Spanien-Visite im Februar 2010. Als er mit seiner Frau ins Auto steigen wollte, flog der Treter eines illegal in Spanien lebenden Syrers über ihn hinweg. Einem Rundfunkbericht zufolge rief der Angreifer "Lang lebe Kurdistan“ – eine Anspielung auf die umstrittene Politik Erdogans gegenüber der kurdischen Minderheit im Südosten des Landes.

Live im Fernsehen übertragen wurde gar ein Angriff auf den früheren australischen Ministerpräsidenten John Howard. Ein Zuschauer bewarf ihn im Oktober 2010 während einer TV-Sendung aus Protest gegen den Irak-Krieg mit Schuhen. "Das ist für die toten Iraker“, rief der Mann, als Howard seinen Entschluss verteidigte, 2.000 australische Soldaten in das krisengebeutelte Land zu entsenden. Nachdem die Schuhe vorbeigerauscht waren, beschwichtigte der Konservative den besorgten Moderator, lächelte den Vorfall mit einem "Vergessen Sie es, vergessen Sie es“ weg – und fuhr ungerührt mit seiner Rechtfertigung fort.