Kanzlerin Merkel und Russlands Präsident Medwedew starten die Ostsee-Pipeline. Doch fast wäre dem Kreml-Chef die Feierlaune vergangen.

Lubmin. Am Ostseestrand bei Greifswald, gleich hinter der düsteren Ruine des einst größten Atomkraftwerks der DDR, ragen an diesem Morgen fünf riesige weiße Kuppeln in den Himmel und repräsentieren die neue Zeit: Die mit Tunneln verbundenen Halbkugeln stellen symbolisch vier Wasserstoffatome und ein Kohlenstoffatom dar: CH{-4}, die chemische Formel für Methan, für Erdgas. Unter dem Dach der futuristischen Konstruktion weihten Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der russische Präsident Dmitri Medwedew gestern die Ostsee-Pipeline Nord Stream ein. Erstmals ist Westeuropa nun direkt an die riesigen Erdgasfelder Sibiriens angeschlossen.

Allerdings genügte es der Bundeskanzlerin nicht, durch das Drehen des weißen Schwungrades im Blitzlichtgewitter der Fotografen die neue Brennstoffleitung zu öffnen, die künftig für warme Heizungen und heiße Kraftwerkskessel in der Europäischen Union sorgen soll. Für Erdgas, das zur Flankierung der Energiewende in Deutschland dringend benötigt wird. Sie wollte zugleich auch eine neue Warmzeit im zuletzt angespannten politischen Verhältnis zwischen der EU und Russland auslösen.

Die Gelegenheit dazu hatte ihr EU-Kommissar und Parteifreund Günther Oettinger (CDU) gegeben, der ebenso wie die Ministerpräsidenten Frankreichs und der Niederlande, François Fillon und Mark Rutte, an der feierlichen Zeremonie an der Küste vor Lubmin teilnahm. Oettinger hatte dem internationalen Pipelinekonsortium Glück gewünscht, weitere Unterstützung zugesagt und die wachsende Bedeutung Russlands als Gaslieferant der Europäischen Union betont.

Dennoch ließ es sich Oettinger nicht nehmen, bei der Feierstunde auf die "divergierende, vielleicht auch kulturell unterschiedliche Auffassung" hinzuweisen, die in Russland in Bezug auf freien Wettbewerb herrsche. Zwar sei Nord Stream ein Projekt "von europäischem Interesse". Gleichwohl habe Europa durchaus Alternativen beim Bezug des relativ kohlendioxidarmen Brennstoffs, betonte Oettinger: "Wir wollen diversifizieren und neue Quellen erschließen, in Algerien, Katar und dem kaspischen Raum."

+++ Die Ostsee-Pipeline Nord Stream wird Betrieb genommen +++

+++ Eine Pipeline von Bord der "Castoro Sei" +++

Mit diesem Hinweis hatte Oettinger Kreml-Chef Medwedew und dem anwesenden Gazprom-Chef Alexej Miller fast die Feierlaune verdorben. Schließlich ist es keine sechs Wochen her, dass die EU-Kommission in ganz Europa die Büros all jener Energiekonzerne durchsuchen ließ, die in Geschäftsbeziehungen zur russischen Gazprom stehen. Denn die EU-Kommission verdächtigt Gazprom wettbewerbswidriger Absprachen. Insbesondere will Oettinger den Regeln des sogenannten dritten Energie-Binnenmarktpakets auch gegenüber Russland Geltung verschaffen. Das Richtlinienbündel der EU bestimmt, dass Gaskonzerne allen Wettbewerbern freien Zugang zu ihrem Leitungsnetz gewähren müssen. Der Pipelinebetrieb soll organisatorisch, wenn nicht sogar eigentumsrechtlich von der Gasförderung getrennt werden.

Für den Gazprom-Konzern, der auf vielen Märkten die Kontrolle über das Pipelinenetz anstrebt, ist das eine unakzeptable Forderung. Schon bei der geplanten Übernahme des Leitungsnetzes im EU-Mitgliedsland Litauen durch Gazprom sorgte diese Bestimmung für beträchtliche Irritationen zwischen Brüssel und Moskau. Auch der Abschluss langfristiger Lieferverträge mit Laufzeiten von bis zu 40 Jahren, wie sie Gazprom wünscht, wird von der EU-Kommission aus Wettbewerbsgründen kritisch gesehen und torpediert.

Es war Angela Merkel, die verhinderte, dass die Stimmung im Lubminer Kugelbau nach Oettingers Rede kippte. Trotz aller Diversifizierung des Gasimports werde Russland "noch über Jahrzehnte der herausragende Energiepartner" bleiben, erklärte sie im Anschluss an die Ausführungen des EU-Kommissars: "Nord Stream setzt neue Maßstäbe in der Energiepartnerschaft." Die Zahlen sprechen dafür: Mit der Inbetriebnahme des zweiten Leitungsstranges im Herbst 2012 könnte die 7,4 Milliarden Euro teure Pipeline, die Transitländer wie die Ukraine umgeht, rechnerisch rund 26 Millionen Haushalte in Westeuropa versorgen.

Doch Merkel war noch nicht fertig: Offenbar sei das dritte Energie-Binnenmarktpaket "nicht für jeden außerhalb der Europäischen Union verständlich", sinnierte die Kanzlerin. "Und wenn etwas nicht verständlich ist, müssen wir es ändern." Dass die Bundeskanzlerin Russland so offen zur Seite sprang im Streit mit den Wettbewerbshütern der EU, wurde auf russischer Seite mit Wohlwollen registriert. "Bundeskanzlerin Merkel hat erklärt, dass das Energiemarktpaket - gelinde gesagt - neu definiert werden muss", freute sich Gazprom-Vize Alexander Medwedew danach im Pressezelt vor Journalisten: "So etwas sagt man nicht nur so dahin." Bei der Umsetzung des Gesetzespakets der EU laufe ja auch wirklich einiges nicht rund, so der russische Gasmanager - und wies noch einmal auf die hohe Bedeutung von langfristigen Lieferverträgen für sein Unternehmen hin. Zuvor hatte bereits der französische Ministerpräsident Fillon betont, dass die neue Pipeline auf dem Grunde der Ostsee fast zwangsläufig zur Verbesserung der Beziehungen zwischen der EU und Russland führen müsse. "Nord Stream ist eine Schlagader, die uns künftig geradezu organisch verbindet", sagte Fillon. Eine einseitige Abhängigkeit des Westens habe dies nicht zur Folge, denn "Russland bekommt mit ihr auch Zugang zu stabilen Märkten". Frankreich, sagte Fillon, setze in der Energieversorgung weiterhin "auf Atomkraft und erneuerbare Energien", doch werde der Rohstoff "Erdgas ergänzend dazu eine wichtige Rolle spielen".