Bei der Gala in Oslo verlas Schauspielerin Liv Ullmann die letzte große Wortmeldung des Nobelpreisträgers. Die Rede in Auszügen.

Im Juni 1989 (dem Tag der gewaltsam niedergeschlagenen Studentenproteste auf dem Tiananmen-Platz in Peking, Anm. d. Red.) erlebte ich den größten Wendepunkt meines Lebens. Zuvor hatte ich zu den ersten Studenten gezählt, als nach der Kulturrevolution wieder Aufnahmeprüfungen für die Universität stattfanden. Meine Hochschullaufbahn war ein sanfter Ritt vom Grundstudium über das Diplom zur Promotion, danach blieb ich als Lektor in Peking. Als Dozent war ich bei den Studenten beliebt. Zugleich publizierte ich zahlreiche Artikel und Bücher, die für freundliches Echo sorgten. Ich war oft als Redner eingeladen und besuchte Europa und die USA als Gastdozent.

Als Person und Autor habe ich mir stets abverlangt, in Ehrlichkeit, mit Würde und Verantwortung zu leben. Nach meiner Rückkehr aus den USA 1989 wurde ich wegen "konterrevolutionärer Propaganda und Aufwiegelung zu kriminellen Handlungen" eingesperrt. Seither war es mir in China untersagt, Schriften zu veröffentlichen oder mich öffentlich zu äußern. Nur weil er eine abweichende politische Meinung äußert, weil er an einer friedlichen und demokratischen Bewegung teilnimmt, kann ein Dozent seine Lehrtätigkeit verlieren, ein Intellektueller die Chance, öffentlich zu sprechen, und ein Autor das Recht zu schreiben. Das ist traurig, nicht nur für mich, sondern auch für ein China, das drei Jahrzehnte der Öffnung und Reform erlebt hat.

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Meine dramatischsten Erlebnisse nach dem 4. Juni 1989 haben allesamt mit Gerichten zu tun. Die Anklage war jedes Mal unterschiedlich, doch handelt es sich im Kern stets um das Gleiche: Ich verstieß gegen das Gesetz, weil ich meine Meinung sagte. Der 4. Juni 1989 bewog mich dazu, den Weg des Dissidententums zu beschreiten. Nach meiner Haftentlassung 1991 verlor ich das das Recht, mich in meiner Heimat öffentlich zu äußern. Viele Jahre wurde ich beobachtet, unter Aufsicht gestellt und in ein Arbeitslager gesteckt.

Jetzt werde ich wieder von meinen Feinden im Regime unter Druck gesetzt. Aber ich möchte dem Regime, das mir meine Freiheit vorenthält, sagen: Ich habe keine Feinde. Weder die Polizisten, die mich überwacht, gefangen genommen und verhört haben, noch die Staatsanwälte, die mich angeklagt, noch die Richter, die mich verurteilt haben, sind meine Feinde. Ich akzeptiere eure Überwachung, euren Arrest, eure Urteile nicht, aber ich respektiere euren Beruf und eure Persönlichkeiten.

Hass zerfrisst die Weisheit und das Gewissen einer Person, Feindesdenken kann den Geist einer Nation vergiften, Toleranz und Menschlichkeit zerstören und den Weg zu Fortschritt und Demokratie verstellen. Ich hoffe, in der Lage zu sein, die Feindseligkeit des Regimes mit besten Vorsätzen zu erwidern und Hass mit Liebe zu entschärfen.

Die Politik der Öffnung hat Staat und Gesellschaft weiterentwickelt. Wir begannen, uns vom Klassenkampfprinzip der Mao-Ära zu verabschieden, und verpflichteten uns stattdessen wirtschaftlicher Entwicklung und sozialer Harmonie. Langsam wandelte sich das Land hin zu mehr Rechtsstaatlichkeit. Selbst im politischen Bereich, wo der Fortschritt am langsamsten ist, sind die Verantwortlichen der Gesellschaft gegenüber toleranter geworden, Dissidenten werden nicht mehr ganz so hart verfolgt. Die Bewegung von 1989 galt fortan nicht mehr als "angestiftete Rebellion", sondern als "politische Erhebung". 1998 versprach China, die Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen zu unterschreiben; China verpflichtete sich damit internationalen Standards. 2004 schrieb der Volkskongress zum ersten Mal in der Verfassung fest, dass "der Staat Menschenrechte respektiert und sichert". Damit hat das Regime signalisiert, Menschenrechte als grundlegendes Prinzip der Rechtsstaatlichkeit anzuerkennen.

Was dies bedeutet, habe ich gesehen, seit ich in Haft sitze. Ich beharre auf meiner Unschuld und darauf, dass die Anklagen gegen mich verfassungswidrig sind. Doch habe ich in all der Zeit, seit ich meine Freiheit verlor, weder Respektsverletzungen noch erzwungene Geständnisse hinnehmen müssen. Ich glaube daran, dass die politische Entwicklung Chinas nie haltmachen wird. Keine Kraft der Welt kann dem menschlichen Drang nach Freiheit Einhalt gebieten. Dereinst wird China ein Land sein, in dem Freiheit und Menschenrechte an erster Stelle stehen.

Wenn Sie mich fragen, was meine glücklichste Erfahrung der vergangenen beiden Jahrzehnte sei, so antworte ich, es war die selbstlose Liebe meiner Ehefrau Liu Xia. Und selbst wenn ich zu Pulver zermalmt werde, werde ich dich mit meiner Asche umarmen. Mit deiner Liebe werde ich meinem bevorstehenden Prozess mit Ruhe begegnen, ohne meine Entscheidungen zu bedauern, voller Zuversicht.

Ich freue mich auf mein Land, in dem die Sichtweisen aller Bürger gleichbehandelt werden, in dem alle politischen Meinungen öffentlich werden, auf dass der Bürger wählen kann, in dem sich jeder ohne Angst äußern kann und nicht verfolgt wird, weil er Abweichendes von sich gab. Ich hoffe, das letzte Opfer der endlosen chinesischen Literaturinquisition zu sein und dass danach niemand mehr wegen seiner Meinung eingesperrt wird. Freie Meinungsäußerung ist Grundlage der Menschenrechte, Ursprung der Menschlichkeit und Mutter der Wahrheit. Sie zu verhindern heißt, auf Menschenrechten herumzutrampeln, Menschlichkeit zu erdrosseln und die Wahrheit zu unterdrücken. Ich fühle mich nicht schuldig dafür, mein verfassungsmäßiges Recht auf freie Meinungsäußerung auszuüben; meiner gesellschaftlichen Verantwortung als Bürger nachzukommen. Selbst wenn ich deswegen angeklagt werde, erhebe ich keine Klage. Vielen Dank!

Mit diesen Worten wollte sich Liu Xiaobo am 23. Dezember 2009 vor Gericht in Peking verteidigen, sein Auftritt wurde ihm jedoch untersagt. Zwei Tage später wurde er wegen "Anstiftung zur Untergrabung der Staatsgewalt" zu elf Jahren Haft verurteilt.