Nach der Verhaftung des Serienmörders in Henstedt-Ulzburg fügt sich das Puzzle zusammen Hans-Jürgen S. griff 1967 offenbar Ute Oswald an.

Hamburg. Ute Oswald nimmt Umwege in Kauf, um nicht allein durch den Kirschenkamp gehen zu müssen. Seit 44 Jahren meidet sie die kleine Straße im Norderstedter Ortsteil Friedrichsgabe - denn hier wäre die heute 65-Jährige offenbar fast jenem Mann zum Opfer gefallen, der fünf Frauen umgebracht hat: Hans-Jürgen S.

Im Frühjahr 1967 war Ute Oswald 20 Jahre alt. Die attraktive, frisch verheiratete Frau rannte an diesem Frühlingsabend offenbar genau vor dem Mann davon, der heute in der Untersuchungshaft in Neumünster einsitzt, weil er vor Jahrzehnten mindestens fünf Mädchen und junge Frauen vergewaltigt und erdrosselt haben soll. Der 64 Jahre alte Hans-Jürgen S. aus Henstedt-Ulzburg hat die Mordserie gestanden. Jetzt prüft die Kripo, ob weitere Verbrechen auf das Konto des Mannes gehen, der bis zuletzt völlig unauffällig lebte und mit seiner inzwischen 90-jährigen Mutter zusammenwohnte.

"Ich lebe mit dem Gefühl, dass ich damals einem Mörder entkommen bin", sagt Ute Oswald. Ein Mann hatte sich damals auf dem Kirschenkamp entblößt und konnte nie gefasst werden. Ute Oswald hat am vergangenen Wochenende alle Berichte in den Zeitungen und im Internet über den Serienmörder gelesen. "Mir ist sehr mulmig geworden", sagt sie mit brüchiger Stimme. "Plötzlich sind alle Erinnerungen wieder da." Ute Oswald hat in einer Zeitung ein unscharfes, altes Foto von Hans-Jürgen S. entdeckt. "Ich bin mir ziemlich sicher, dass das der Mann aus dem Kirschenkamp war. Nie werde ich diesen stechenden Blick vergessen." Außerdem ist ihr aufgefallen, dass Hans-Jürgen S. bei den Mordfällen stets mit einem Auto unterwegs war, seine Opfer im Vorbeifahren zufällig auswählte und sie danach überfiel - wie auch Ute Oswald.

Die junge, damals schwangere Frau arbeitete 1967 als technische Zeichnerin in einem Betrieb an der Quickborner Straße. Der gelernte Maurer Hans-Jürgen S. war damals 20 Jahre und lebte allein in Norderstedt. Sie hatte gegen 17 Uhr Feierabend gemacht und war zu Fuß durch den Kirschenkamp gegangen. Zunächst fiel ihr der Pritschenwagen eines Handwerksbetriebs nicht auf, der ihr langsam entgegenkam. Doch dann sah sie den Fahrer, der sie im Vorbeifahren starr anschaute. "Ein junger Mann mit schwarzen Haaren, einem schmalen Gesicht. Er guckt mich sehr interessiert an."

Hinter ihr verschwand der Wagen in einer Kurve. Kurz darauf hörte Ute Oswald ein lautes Rufen. Als sie sich umdrehte, stand vor ihr ein Mann mit heruntergelassener Hose. Sie erkannte ihn sofort, den Fahrer des Pritschenwagens. "Dann bin ich nur noch gerannt", berichtet Ute Oswald. Zu Hause angekommen, erzählte sie atemlos ihrem Mann von dem Furcht einflößenden Erlebnis. Mit einem VW Käfer fuhr das Paar gemeinsam durch Friedrichsgabe, doch der Mann mit dem Pritschenwagen war verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt.

Der Polizei war die exhibitionistische Tat nur eine kurze Notiz wert. "Da wurde keine große Anzeige geschrieben", berichtet Ute Oswald. Ihr Fall war vermutlich der erste in der langen Liste der Verbrechen von Hans-Jürgen S. Vom Exhibitionisten zum Serienmörder - das war eine Spur, die bereits eine Sonderkommission im Jahr 1973 verfolgte. Die fünfköpfige Ermittlergruppe sollte vier ungeklärte Frauenmorde im Raum Norderstedt aufklären: Am 21. Juni 1969 wurde die 22 Jahre alte Optikerin Jutta M. in der Nähe ihres Elternhauses tot aufgefunden. Nach einem Disco-Besuch verschwand am 30. September 1969 die 16 Jahre alte Renate B., die acht Monate später tot in einem Wald entdeckt wurde. In Hamburg-Langenhorn brachte am 31. Juli 1970 der Serienmörder die 22 Jahre alte Angela B. aus Hamburg-Langenhorn um. Im Mai 1973 fand ein Spaziergänger die Leiche der 15 Jahre alten Norderstedterin Ilse G. Der Mörder hatte sämtliche Opfer vergewaltigt. Außerdem beschäftigte sich die Soko mit mehreren Exhibitionismus-Fällen. Ganz oben auf der Liste stand der Name von Ute Oswald.

Hans-Jürgen S. hat nach seiner Festnahme im April 2011 die Morde gestanden, die von der Soko nicht aufgeklärt werden konnten. Außerdem gab er den Sexualmord an der 18 Jahre alten Schwesterschülerin Gabriele S. aus Henstedt-Ulzburg zu, die er im Februar 1984 verschleppt, vergewaltigt und erdrosselt hatte.

"Ich bin jetzt wieder total drin in dieser Geschichte von damals", sagt Ute Oswald. "Es brodelt in mir, ich kann mich kaum beruhigen." Sie hofft, dass die Polizei ihr ein Foto zur Verfügung stellen kann, das Hans-Jürgen S. zeigt, wie er im Jahr 1967 aussah. "Ich möchte die Gewissheit haben, dass der Täter von damals wirklich im Gefängnis sitzt", sagt die Rentnerin.