Die Frauen fuhren im Wagen ihres Mörders mit, wurden vergewaltigt, erdrosselt und abgelegt. Eine neue Speichelprobe führte zum Täter.

Helmut Schwarz, 41 und von Beruf Drucker, ging im Quickborner Ortsteil Heide spazieren. Zuerst fielen dem Norderstedter eine rotkarierte Hose und ein weißer Rollkragenpullover auf, die in dem Graben lagen. Dann sah er den Rest. Es war der 27. Mai 1973. Aus den Kleidungsstücken ragten die stark verwesten Gliedmaßen eines Mädchens.

Die Polizisten, die kurz darauf eintrafen, hatten schon auf dem Weg zum Fundort geahnt, dass es sich bei dem Mädchen um die seit Oktober vermisste, 15 Jahre alte Schülerin Ilse G. handelt. Ihre Eltern nickten nur stumm, als die Beamten ihnen den Schuh ihrer Tochter zeigten, der im Graben gelegen hatte. Die Mutter brach zusammen.

Schon am nächsten Tag ordnete das Kriminalpolizeiamt in Kiel die Bildung einer Sonderkommission in Norderstedt an. Der furchtbare Verdacht: Ilse G. war das Opfer eines Serienmörders geworden, der seit Ende der 60er-Jahre im Hamburger Umland mehrere Mädchen und junge Frauen getötet hat. Der Unbekannte hatte sich an seinen Opfern sexuell vergangen, bevor er sie umbrachte. Die meisten Taten zählte die Polizei im Raum Norderstedt.

38 Jahre später: Am 5. April 2011 nehmen Beamte der Mordkommission Kiel am Eschenweg in Henstedt-Ulzburg den 64 Jahre alten Hans-Jürgen S. fest. Er wird zu diesem Zeitpunkt dringend verdächtigt, 1984 die 18 Jahre alte Schwesterschülerin Gabriele S. vergewaltigt und erdrosselt zu haben. Als die Ermittler den Arbeiter, der bei seiner 90 Jahre alten Mutter lebt, befragen, ahnen sie nicht, dass ein Serienmörder vor ihnen sitzt, der mindestens fünf Frauen auf dem Gewissen hat.

Ein unglaublicher Zufall hatte die Mordkommission auf die Spur des Mannes geführt.

Die Ermittler hatten 2010 den Fall von Gabriele S. erneut aufgerollt. Männer aus ihrem Umfeld mussten Speichelproben abgeben, die mit einem neuartigen Verfahren mit den DNA-Spuren vom Tatort abgeglichen werden sollten. Dabei fiel den Mikrobiologen des Landeskriminalamts eine Probe auf, die zwar nicht identisch mit jener vom Tatort war. Doch die Spezialisten waren sicher, dass bei einem sehr nahen Verwandten der Treffer mit der 100-pozentigen Übereinstimmung zu finden sein würde. Damit war die Spur zu Hans-Jürgen S. gelegt. Und der war bei der Polizei kein Unbekannter: Nach der Vergewaltigung der Hamburger Prostituierten Tülay S. hatte er im Jahr 1994 eine einjährige Bewährungsstrafe erhalten. Nun gestand er den Mord an Gabriele S. und überraschte die Beamten, als er vier weitere Verbrechen zu Protokoll gab - an Ilse G., Jutta M., Renate B. und Angela B.

Der Leiter der Kieler Mordkommission, Stefan Winkler, schließt nicht aus, dass S. noch mehr Frauen auf dem Gewissen hat - auch, wenn der 64-Jährige weitere Sexualmorde vehement bestreitet. Profiler sollen den Kriminalbeamten helfen, bundesweit nach Übereinstimmungen mit anderen, bislang ungeklärten Mordserien zu suchen. Außerdem wird die Mordkommission versuchen, ein Bewegungsbild zu erstellen, um nach Jahrzehnten die Fragen zu klären: Wann hat sich der Handwerker aus Norderstedt wo aufgehalten? Sind in anderen Bundesländern Fälle aktenkundig, in denen der Täter sein Opfer mit dem Auto verfolgte, sie hineinzerrte, vergewaltigte und erdrosselte? "Die Vorgehensweise ist absolut heftig und einzigartig", sagt Winkler. Er spricht von "Zufallsopfern" - S. überfiel Frauen, die er im Vorbeifahren entdeckte.

Freitagnachmittag in Kiel: Während Polizei und Staatsanwaltschaft Einzelheiten preisgeben, hat sich bei den Nachbarn von Hans-Jürgen S. herumgesprochen, dass sie neben einem mehrfachen Frauenmörder gelebt haben. "Auffällig unauffällig" - so beschreiben die Menschen in der Reihenhaussiedlung in Henstedt-Ulzburg den großen und kräftigen Mann, der nach der Trennung von seiner Frau, mit der er zwei Töchter hat, zu seiner Mutter gezogen war. Vor wenigen Monaten haben sie gemeinsam mit Freunden und Honoratioren aus dem Ort den 90. Geburtstag der alten Dame gefeiert.

Hans-Jürgen S. arbeitete für eine Norderstedter Baufirma und ist begeisterter HSV-Fan. Sein BMW mit den Aufklebern und Wimpeln ist inzwischen aus dem Carport verschwunden. Die Mutter von Gabriele S. lebt nur wenige 100 Meter entfernt. "Die Geschichte mit der Gabriele war schon schlimm", sagt eine Nachbarin. "Dass jetzt noch mehr Fälle dazukommen, ist einfach unfassbar."

Die Norderstedterin Ilse G. war am 24. Oktober 1972 spurlos verschwunden. Um 18.20 Uhr hatte sie ihre Lehrstelle im Lebensmittelgeschäft Sager im Stadtteil Friedrichsgabe verlassen und wollte mit ihrem Fahrrad ins Haus ihrer Eltern an der Straße Syltkuhlen fahren. Doch dort kam sie nie an. Wenige Tage später entdeckten Polizisten 150 Meter vom Haus das rote Fahrrad und den Einkaufsbeutel des Mädchens. Hundertschaften der Polizei suchten weiter, ohne Erfolg. Erst als Helmut Schwarz die tote Ilse entdeckte, hatten die Eltern die entsetzliche Gewissheit, dass ihr Kind einem Verbrechen zum Opfer gefallen war.

Der Täter hatte den Unterkörper seines Opfers entblößt. "Die Jacke war um den Hals geschlungen und mit den Ärmeln zusammengeknotet", hieß es im damaligen Bericht der Sonderkommission. Der Unbekannte hatte sie mit ihrer eigenen Jacke erdrosselt. Bei der Soko in Norderstedt trafen sich 1973 Kriminalisten aus Schleswig-Holstein, Hamburg und Niedersachsen, um Parallelen zwischen ungeklärten Mordfällen abzugleichen und die Frage zu beantworten: Gehen die Verbrechen auf das Konto eines Serientäters? In allen Fällen waren die Opfer Teenager oder junge Frauen. Alle lebten im Großraum Hamburg und wurden Opfer eines Sexualverbrechers, der sie mit ihren eigenen Kleidungsstücken erdrosselte und sie nach ihrem Tod an abgelegenen Orten zurückließ.

Die Serie begann am 21. Juni 1969, als die Polizei in der damals noch selbstständigen Gemeinde Harksheide ein Verbrechen meldete. Auf dem Grundstück Kiebitzreihe 52 lag die Leiche der 22 Jahre alten Optikerin Jutta M. Ihr Unterleib war entblößt worden, der Täter hatte ihre Unterwäsche zerrissen.

Am 30. September 1969 meldeten Angehörige die 16 Jahre alte Näherin Renate B. aus Norderstedt als vermisst. Sie hatte gegen 20 Uhr die Diskothek "Dandy" an der Langenhorner Chaussee verlassen. Zeugen beobachteten sie, als sie an der Schleswig-Holstein-Straße stand und als Anhalterin Autos stoppte. In einem der Fahrzeuge, das anhielt, saß ihr Mörder. Knapp acht Monate später, am 20. Mai 1970, fanden spielende Kinder im Rantzauer Forst in einem Graben die skelettierte Leiche der 16-jährigen Renate B. Erneut war der Täter brutal vorgegangen, hatte die Kleidung des Mädchens zerrissen, sein Opfer vergewaltigt und getötet - möglicherweise mit ihrer Strickjacke.

Dem nächsten Opfer lauerte der Täter in Langenhorn auf. Die 22 Jahre alte Angestellte Angela B. hatte am 31. Juli 1970 gegen 23 Uhr am Bahnhof Langenhorn-Markt die U-Bahn verlassen. Auf dem Weg nach Hause traf sie ihren Mörder. Erst am 4. September wurde die Leiche entdeckt (siehe Text rechts).

Nur wenige Wochen später, am 25. Oktober 1972, verschwand Ilse G. Einen Tag später gründete die Polizei die Soko, die nicht nur die Ermittlungen für die Mordfälle übernahm, sondern auch Dutzende andere Straftaten erneut aufrollte. Dazu zählten diverse Delikte, die im Polizeijargon "Notzucht" hießen, und exhibitionistische Überfälle auf Frauen. Außerdem überprüften die Beamten zwei weitere Mordfälle in den Kreisen Kreis Herzogtum Lauenburg, Stormarn und in Lüneburg mit Parallelen zu den Norderstedter Verbrechen.

Zum ersten Mal geriet der Norderstedter B. ins Visier der Ermittler, der bereits in Haft saß, nachdem die Opfer von zwei weiteren Vergewaltigungen ihn bei einer Gegenüberstellung wiedererkannt hatten. Ihm wurden danach auch die Morde an Ilse G. und Renate B. zur Last gelegt, doch vor Gericht blieb nur wenig von den Beschuldigungen übrig. Nach einer fünftägigen Verhandlung vor dem Kieler Schwurgericht kam B. frei. Das Gericht hatte ihn lediglich wegen einer versuchten Vergewaltigung verurteilt - für die Ermittler ein Schock. Sie waren sicher gewesen, den Täter gefasst zu haben, und mussten von vorn in die Ermittlungen einsteigen. Der Erfolg blieb Jahrzehnte aus. Auch die Ermittlungen im Mordfall Gabriele S. schienen aussichtslos zu sein. Zwei 14 Jahre alte Jungen hatten am 12. Februar 1984 die ermordete 18-Jährige in einem Waldstück bei Weddelbrook gefunden und die Polizei gerufen. Die Schwesternschülerin aus Henstedt-Ulzburg hatte in der Nacht zum 4. Februar versucht, als Anhalterin zur Diskothek "Kutsche" nach Alveslohe zu fahren. Zeugen sahen sie, als sie ein Auto stoppen wollte. Dann verlor sich ihre Spur. Auch sie wurde vergewaltigt und dann mit ihrem Schal erdrosselt.

Immer wieder studierten die Ermittler der Kieler Mordkommission die Akten, befragten Zeugen und überprüften Spuren.

Hans-Jürgen S. war völlig überrascht, als die Kripo am 5. April 2011 an seiner Haustür klingelte. Der Druck, der auf ihn lastete, war offenbar so groß, dass er den Mord an Gabriele S. noch am selben Tag gestand. Dass er wenig später für vier weitere Morde die Verantwortung übernehmen würde, bezeichnen selbst erfahrene Kriminalbeamte als "unglaublich". Aus dem Gefängnis hatte er sich gemeldet und um ein Gespräch mit den Ermittlern gebeten. "Er wollte reinen Tisch machen", sagt Mordkommissionschef Winkler. Und über seine Anwälte ließ Hans-Jürgen S. am Freitag ausrichten, dass er die Zeit zwischen 1969 und 1984 heute "als eine unfassbare Phase seines Lebens" empfinde. Er sei inzwischen ein "anderer Mensch" geworden.

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Die Finger stecken in Handschuhen, eine Plastikhaube wölbt sich über die Haare von Sandra Humboldt. Auch der Mund ist bedeckt. Ohne Schutzkleidung darf kein Besucher ins Labor gehen. "Nicht eintreten!" steht auf der Eingangstür des Raumes im zweiten Stock des Landeskriminalamtes in Kiel. Sandra Humboldt arbeitet mit Spuren. Spuren, die ein Verbrecher am Tatort hinterlassen hat: Haare, Hautschuppen, Sperma oder eine Zigarettenkippe, an der sein Speichel klebt. Spuren, in denen ein sogenannter genetischer Fingerabdruck steckt, der den Täter genauso eindeutig überführt wie ein klassischer Fingerabdruck.

In diesem LKA-Labor haben Sandra Humboldt und ihre Kollegen auch die DNA-Spur entdeckt, die jetzt auf die Spur des Mörders von Gabriele Stender aus Henstedt-Ulzburg führen könnte. Was der Täter vor mehr als 26 Jahren hinterlassen hat, will die Mordkommission nicht verraten. Doch sicher ist: Die Spur könnte ihm zum Verhängnis werden. Stimmen die genetischen Daten, die im Labor entdeckt wurden, mit denen eines Verdächtigen überein, können die Ermittler sicher sein, Gabrieles Mörder vor sich zu haben.

Als zwei Kinder damals an einem kalten Februartag Gabriele ermordet in einem Wald in Weddelbrook entdeckten, war der Begriff "genetischer Fingerabdruck" noch unbekannt. Die DNA-Analyse war noch nicht erfunden. Die Beamten ahnten damals noch nicht, dass sie auch Gen-Spuren des Täters sicherstellten, als sie Kleidung und andere Gegenstände am Tatort in Tüten verpackten. Die Fundstücke liegen auch heute noch in einem Keller der Polizei. Mord verjährt nie.

Erst Mitte der 90er-Jahre sei das Verfahren für die forensische DNA-Analytik entwickelt und von der Polizei genutzt worden, sagt Dr. Andreas Fesefeldt, Sachverständiger für DNA-Analysen im Kieler LKA. Damit stand den Ermittlern neben dem klassischen Fingerabdruck und der Serologie, bei der zum Beispiel Blutgruppen untersucht wurden, ein neues Instrument für die Tätersuche mit unschlagbaren Vorteilen zur Verfügung: Die Merkmale einer Gen-Spur sind fast einmalig. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie bei zwei Menschen übereinstimmt, geht gegen Null. Sich vor dem Verlust von Spuren des eigenen Körpers zu schützen, halten Experten für nahezu unmöglich. Der Täter müsste sich komplett mit Folie bedecken, sagt Mikrobiologe Fesefeldt.

Hat ein Mensch Schuppen, Haare oder Speichel hinterlassen, versuchen die 16 DNA-Experten im LKA in dem Material Chromosomen zu finden, selbst wenn die Spur nur mikroskopisch klein ist. Die DNA-Fahnder suchen nicht nach Inhalten des Erbmaterials, sondern messen die Längen bestimmter Fragmente der Chromosomen. Nur diese Messergebnisse und die Bestimmung des Geschlechts zählen. Weder dürfen die Analytiker sich mit den Gen-Codes beschäftigen und nachschauen, ob der Unbekannte blonde Haare oder schwarze Haut hatte, noch haben sie dafür die technische Ausstattung. "So ein Verfahren ist in Deutschland verboten", sagt Fesefeldt.

Doch warum wird der Fall Gabriele Stender erst jetzt neu aufgerollt? Erst heute sind die Analyseverfahren so fein, dass in den Spuren vom Fundort der Leiche Gen-Spuren entdeckt werden konnten. Fünf bis zehn menschliche Zellen können reichen, um die Chromosomen-Fragmente zu vermessen. Der Mord an der jungen Frau aus Henstedt-Ulzburg gehört zu einer Reihe von Verbrechen, die nach Jahrzehnten mit Hilfe modernster Technik aufgeklärt werden könnten. Im Kreis Stormarn hat die Polizei 2200 Männer zu einem Massengentest aufgefordert. Die Mordkommission aus Lübeck sucht dort den Mörder der 15 Jahre alten Silke B., die im Juni 1985 auf dem Weg zu einer Schulparty getötet wurde. Fest steht lediglich, dass ihr Mörder ein anderer ist als im Fall Gabriele Stender.

900 000 Datensätze kann die Polizei derzeit in der zentralen deutschen DNA-Analysedatei abrufen, die 1998 gegründet wurde und der Polizei spektakuläre Erfolge ermöglichte. Ronny Rieken aus Niedersachsen war der erste Sexualstraftäter, der damals überführt wurde. Er hatte zwei Mädchen im Alter von elf und zwölf Jahren getötet und freiwillig seine Speichelprobe abgegeben. Er verbüßt seine lebenslängliche Gefängnisstrafe in Celle.

Seit den 90er-Jahren hat das LKA jedes Mal, wenn die Technik eine nochmalige Verfeinerung der Analyse ermöglichte, die Spurenträger aus den "Altfällen" erneut untersucht. Das Problem: Bei manchen Untersuchungen in den 80er-Jahren ist nicht viel übrig geblieben.

Fesefeldt und viele Ermittler vermuten, dass eine Welle weiterer Aufklärungserfolge im kommenden Jahr folgen könnte. Im Sommer sollen die DNA-Daten von 27 europäischen Ländern miteinander vernetzt werden. Dann können zum Beispiel auch die Gen-Daten dänischer Straftäter mit den Unbekannt-Spuren der Fälle Gabriele Stender und Silke B. abgeglichen werden. "Bei dem Abgleich wird eine Menge passieren", sagt Fesefeldt.

80 Prozent der Datensätze im DNA-Register stammen von Personen. Der Rest setzt sich aus unbekannten Spuren von schweren Straftaten zusammen, die noch keinem Täter zugeordnet werden konnten. Auch die Spuren in den Fällen Gabriele Stender und Silke B., die vor Jahrzehnten sichergestellt wurden, hat die Polizei dort gespeichert.

Doch trotz stetig verfeinerter Analyseverfahren und europäischer Datenvernetzung stehen die Ermittler der Mordkommissionen und die DNA-Spezialisten im LKA immer wieder vor neuen Herausforderungen: Nicht jede Gen-Spur, die am Tatort oder am Opfer gefunden wird, muss zwangsläufig dem Täter gehören. Und nicht jeder, der am Tatort war, kommt als Täter infrage. Um Zeugenaussagen und der Suche nach anderen Indizien kommt eine Mordkommission auch in Zeiten der DNA-Analytik nicht herum.