In Hamburgs Osten verfestigten sich kriminelle Strukturen immer mehr - bis die Beamten begannen, selbst kleinste Delikte zu verfolgen.

Hamburg. Damian K. hatte Drogen an 13-Jährige in Mümmelmannsberg verkauft. Mitte September wurde der Pole (25) zu mehr als vier Jahren Haft verurteilt. Zwei Monate zuvor war Zeki Z. aufgeflogen, der einen geleasten Geländewagen verkaufen wollte. Mit der Waffe in der Hand stoppten ihn Ermittler beim Autoglaser. Noch zwei Monate zuvor war Maik S. festgenommen worden. Der 15-Jährige hatte in der Wohnung Waffen gebunkert.

Kriminalitätszahlen aus dem Bezirk Hamburg-Mitte

Was alle drei vereint: Sie sollen den berüchtigten Sonnenland-Gangs angehört haben. Drei Fälle von Hunderten. Ergebnisse krimineller Strukturen, die Billstedt zu übernehmen drohten, befürchtete die Polizei. In dem Stadtteil im Osten Hamburgs war der Staat drauf und dran, sein Gewaltmonopol zu verlieren. Doch die Polizei reagierte - mit einer Strategie der Nadelstiche. Im Mai 2009 gründete sie die Soko "Sonnenland". Kleinste Vergehen wurden im Rahmen des Möglichen mit Strafen belegt, kriminelle Strukturen offengelegt, Täter zermürbt, bis sie aufgaben oder im Gefängnis landeten.

Vor wenigen Tagen wurde die Soko aufgelöst. Die Polizei spricht euphorisch von einem einzigartigen Erfolgsmodell. Im Abendblatt erläutert einer der Ermittler erstmals die Arbeit der Soko. Ende 2008, Anfang 2009 begannen die Grenzen von Recht und Gesetz zu verschwimmen - wenn Polizisten auf junge Erwachsene trafen. "Das war wie eine Spirale", sagt Thomas Francke, Vize-Chef der Polizeiwache nahe dem Billstedt-Center. Der hochgewachsene Polizist trägt den goldenen Stern eines Kriminalrats. "Das hat sich langsam hochgeschaukelt."

Etwa wenn die Polizei nachts ein Auto kontrollierte, in dem vier Typen steckten, die sich nicht ausweisen, nicht aussteigen wollten. Wenn dazu "Bekannte" am Peterwagen auftauchten, sich Drohkulissen aufbauten. "Selbst mit der Dienstwaffe am Gürtel verschiebt sich da irgendwann das Machtgefüge." Wie viel Macht sie bereits verloren hatten, kann Francke nicht sagen, will es wohl auch nicht. "Fakt ist, dass wir das nicht tolerieren wollten, frühzeitig eingreifen mussten."

Wer stellte das Gewaltengefüge infrage? "Keine klassischen Banden, nicht immer fest zusammengesetzt. Aber sie waren schon strukturiert", sagt Francke etwas umständlich. "Keine Kinder, keine Jugendlichen", konkretisiert er. "Junge Erwachsene, über 30-Jährige waren die Ausnahme." Niemand, den die in Billstedt verankerten Präventionsangebote noch auffangen könnten.

Die Soko reagierte mit einem Konzept, das sich an Tätern, nicht an Taten orientierte. Wobei Fracke betont: "Der Name 'Sonnenland' wurde dem nicht gerecht, stigmatisierte nur die Straße. Das Problem war in ganz Billstedt." Man habe die besten Leute zusammengebracht, erklärt der Kriminalrat. "Hoch motiviert." Fünf Ermittler, die auf Zivilfahnder und die Bereitschaftspolizei zugreifen konnten. "Die hatten freie Hand", sagt Francke. Die Fäden liefen bei ihm und seinem Chef Ulrich Kondoch zusammen.

"Wenn ihr einen Schritt macht, machen wir drei" ist das Motto, unter dem die Fahnder ab Mai 2009 Druck machten. "Wir wollten zeigen, dass wir die Taktzahl vorgeben, wir an ihnen dran, immer einen Schritt voraus sind." Die Konzepte waren so einfach wie effizient: Da viele Verdächtige ohne Führerschein in geliehenen Autos durchs Viertel fuhren, begann die Soko mit einer großen Verkehrskontrolle. Es sollte nicht die einzige bleiben - Nadelstiche eben. Aus den Erkenntnissen, wer mit wem in wessen Auto fährt, konnten die Ermittler eine "Landkarte" der Beziehungen aufzeichnen.

Sie bauten ein Raster mit Verdächtigen auf. Kleinste Verstöße wurden darin registriert - und sanktioniert, schnell und niederschwellig. Ansprachen, Personenkontrollen, Vorladungen, Kontaktverbote, Platzverweise, Gewahrsamnahmen waren an der Tagesordnung. "Was irgendwie ging, wurde ausgenutzt." Wenn es sein musste, klingelten die Ermittler in kurzen Abständen bei den immer gleichen Tätern. Solch "niederschwellige Sanktionen" entwickelten sich im Wiederholungsfall zu Gerichtsprozessen mit harten Strafen. Zeugen, die Aussagen machten, wurden unter Schutz gestellt.

Und die Polizei hatte im Nervenkrieg den längeren Atem: Knapp 330 Tage, 1500 Personenkontrollen, 144 Ermittlungsverfahren sowie 12 vollstreckte und beantragte Haftbefehle später erklärt sie die Fronten für geklärt. "Irgendwann zur Halbzeit merkte man, dass die sich gestört fühlten", sagt Francke. "Ein super Signal: Genau die, die wir im Fokus hatten, stören wir. Jeder von denen wusste, irgendwann stehen wir auch vor seiner Tür." Die im Raster gefangenen Täter traten den Rückzug an, wurden kaum noch auffällig. An eine Abwanderung in andere Stadtteile glaubt Francke nicht. "Dann hätten andere Reviere mehr Kriminalität verzeichnen müssen."

Außerdem seien die Täter zu stark an ihren Stadtteil gebunden. "Das hier ist ihre Heimat, die verlässt man nicht ohne Not", sagt Francke und war dennoch von der Abhängigkeit Einzelner im kriminellen Gefüge erstaunt. Die Perspektivlosigkeit, die viele junge Männer für eine kriminelle Karriere anfällig werden lasse - beginnend meist mit dem Verkauf leichter Drogen - bringe starke Abhängigkeiten in der Hierarchie der Tätergruppen. "Jemanden dort wieder herauszubrechen, ist wirklich schwer." Der Soko scheint es gelungen. Nicht nur das, Francke sieht seine Arbeit auch bei den Billstedtern honoriert. "Bei Verkehrskontrollen erhielten wir durchweg positive Resonanz, sagt er. "Unsere Botschaft war: Wir kümmern uns um Ihre Belange." Vor Ort in Billstedt ist davon kaum mehr zu spüren. "Ich hab nichts gemerkt", sagt Annedore Drews (66) beim gemütlichen Spazieren durchs Viertel. "Ist alles genauso wie vorher." 45 Jahre lebt sie nun schon hier. Passiert sei ihr noch nie was. Überhaupt werde Billstedt immer überzogen dargestellt. Und Kriminalität gebe es woanders nicht weniger als hier, im Sonnenland. Ähnlich sieht es Katharina Sachs (33) vom Haus der Kinder im Sonnenland (Sola). "Die Probleme fangen doch bei den Zuständen vor Ort an sich an." Die Frustration bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen sei einfach zu stark. Ohne Abschluss und ohne Perspektive würden sie immer wieder abrutschen. Da würden auch keine Polizeiaktionen helfen. Und keine Soko.