Schon in den 70er-Jahren galt der Straßenzug am Rand von Billstedt als “Tal der Gesetzlosen“. Vanessa Seifert über ein Quartier, das gegen seinen schlechten Ruf ankämpft.

Es ist ein Sonnenland, das im Schatten liegt. Das Sonnenland, eine Hochhaussiedlung am Rand von Billstedt, gilt als "dunkle Ecke". Fällt das Licht der Öffentlichkeit für einen Moment auf diese Straße, dann geht es meist um Gewalt. Um Jugendbanden, die dealen, drohen und mit ihren tiefergelegten Autos durch die Gegend dröhnen. Um 40 junge Männer, deren Taten mittlerweile 16 Beamte der eigens gegründeten Soko "Sonnenland" beschäftigen. "Diese Schlagzeilen überschatten das Leben hier", sagt Jürgen Wolff (53), ehrenamtlicher Betreuer beim Stadtteilprojekt Sonnenland. Dabei wohnten 35 dieser 40 jungen Männer gar nicht im Viertel Sonnenland. Es sei an der Zeit, endlich Licht ins Dunkel zu bringen.

Angst habe sie nicht, sagt Heike Riedel. Auch nicht am Abend, wenn die Sonne längst untergegangen sei. Manchmal machten zwar ein paar Halbstarke Randale. "Aber mit der Kriminalität ist es besser geworden", sagt die 51-Jährige. Seit 45 Jahren lebt sie im Sonnenland. Seit sie als sechsjähriges Mädchen mit ihren Eltern eingezogen ist in diese Siedlung, die in den 60er-Jahren für jene Arbeiterfamilien gebaut worden war, die während der großen Sturmflut ihr Zuhause verloren hatten. Ein Neuanfang sollte es sein. Eine Straße der Hoffnung. Eine Straße, die Jahrzehnte später für viele Bewohner längst zur sozialen Sackgasse geworden ist.

"Viele wollen weg, aber schaffen es nicht", sagt Heike Riedel, die sich ihr Leben lang mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten hat. Mal in einer Imbissbude, mal in einer Spielhalle. "Viel gibt es hier nicht", sagt sie. Von den 4000 Menschen, die im Sonnenland wohnen, bezieht fast jeder zweite staatliche Hilfe. Von den Plattenbauwohnungen, in denen die Kaltmiete pro Quadratmeter bei weniger als fünf Euro liegt, seien 60 Prozent "öffentlich geförderter Wohnungsbau" - wie die politisch korrekte Bezeichnung von Sozialwohnungen lautet. "Eigentlich ist das Sonnenland eine unauffällige, ruhige Gegend", sagt Mario Spitzmüller von der Saga, die insgesamt 900 Wohnungen im Sonnenland vermietet. "Viele Mieter haben sich richtig schöne Gärten angelegt." Hätten sich Lauben gezimmert und damit ein Stück privates Glück. "Insgesamt gibt es wenig Fluktuation bei den Mietern", sagt Spitzmülller. "Wer einmal eingezogen ist, der bleibt."

Sally Mary Riedel, Heike Riedels 22-jährige Tochter, ist nicht geblieben. Die Freundinnen aus der Kindheit, von denen viele die Schule geschmissen haben, bewundern Sally als "eine, die es geschafft hat". Eine, die nicht aushilfsweise bei einem Discounter an der Kasse sitzt. Als eine, die Abitur gemacht hat und jetzt an der Uni Hamburg Politik und Ethnologie studiert. "Irgendwie bin ich wohl schon eine Ausnahme", sagt die junge Frau. "Ohne den Rückhalt im Elternhaus hätte ich das alles nicht geschafft." Das habe sie gesehen an Mitschülern, die sich selbst überlassen waren. Die teilweise nur schlecht Deutsch sprachen und irgendwann in der Förderschule landeten. "Machen wir uns nichts vor: Das war's dann auch mit der Perspektive", sagt Sally Riedel.

Unlängst hat das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln untersucht, dass die soziale Stellung der Eltern die Schulleistungen der Kinder beeinflusst - und zwar in Deutschland so nachhaltig wie in kaum einem anderen Land. Unterschicht ist also gewissermaßen erblich. Noch schwieriger wird es, wenn schon die Anschrift im Personalausweis zur Bürde wird. "Wenn du im Sonnenland lebst, musst du dich ständig rechtfertigen", sagt Jürgen Wolff vom Stadtteilprojekt, in das täglich bis zu 50 Jugendliche kommen. Rechtfertigen vor dem Personalchef, wenn in der Bewerbungsmappe die Anschrift Sonnenland auftaucht. Oder vor dem Vorgesetzten - manchmal sogar, wenn man nur sein Auto parken will. "Stellen Sie es bitte woanders ab, im Sonnenland wird es entweder beschädigt oder gleich gestohlen", soll ein Handwerker von seinem Vorgesetzten angewiesen worden sein. "Das Viertel wird stigmatisiert", sagt Jürgen Wolff. "Es kostet sehr viel Kraft, gegen diesen schlechten Ruf anzukämpfen." Dabei hätten die Sonnenländer doch genug Probleme. Arbeitslosigkeit und fehlende Perspektive zum Beispiel.

Das Gewaltproblem habe das Stadtteilprojekt Sonnenland, das 2007 noch von der Bausparkasse BHW mit dem Preis "Beste Nachbarschaft Hamburgs" ausgezeichnet worden war, nie so recht in den Griff bekommen, munkeln manche Politiker aus dem Bezirk Mitte. Peter Herkenrath (CDU) war maßgeblich an dem Beschluss beteiligt, dem Projekt 2007 sämtliche Zuschüsse und die fünf Sozialarbeiterstellen zu streichen. "Es braucht eben mehr als einen Billardtisch, um die Jugendlichen wirklich von der Straße zu holen", sagt Herkenrath. "Es muss gewährleistet sein, dass nicht immer mehr Jungs in die Fänge von Straßenbanden geraten." Er habe das Gefühl gehabt, dass Jugendliche damals "nicht in der gewünschten Weise" erreicht worden seien, wie es offiziell heißt. "Wer heute behauptet, er habe nicht gewusst, dass es im Sonnenland Jugendgewalt gibt, dem kann ich nicht glauben", sagt der Bezirkspolitiker mit der Pferdeschwanz-Frisur. Bereits im Herbst 2008 sei dieses Problem Thema im Jugendhilfeausschuss gewesen. Nun, da sich das Stadtteilprojekt personell neu aufgestellt habe, sei die Förderung gerechtfertigt: 30 000 Euro hat der Bezirk Mitte für acht Monat bereit gestellt. "Den dringend benötigten Sozialarbeiter können wir davon aber nicht einstellen", sagt Jürgen Wolff, der sich genau wie die etwa 50 anderen Mitarbeiter ausschließlich ehrenamtlich engagiert. "Wie soll man denn bitte Jugendliche ohne professionelle Begleitung auf den richtigen Weg führen?"

Ein 13-Jähriger, der sich "Syd" nennt, steht auf dem Hof vor dem Stadtteilprojekt. Reingehen geht gerade nicht. "Hausverbot", sagt Syd und zieht die Kapuze seines grauen Pullovers über den Kopf. Eine Fensterscheibe im Erdgeschoss soll er vor ein paar Tagen eingeworfen haben. "Das war ich aber gar nicht", sagt er und grinst verlegen. Die Strafarbeit wolle er trotzdem machen: "Ich soll über Pfingsten im Obergeschoss eine Wand neu anstreichen, dann darf ich wieder rein." Zur Hausaufgabenbetreuung. Und zum Abhängen. "Das machen wir sonst an der Bahn-Haltestelle oder da im Treppenhaus", sagt sein Kumpel Stepho (15) und zeigt auf den mehrgeschossigen Plattenbau gegenüber. Eigentlich sollte Stepho gerade beim Praktikum sein, bei einem Autolackierer: "War aber langweilig", sagt er. Koch wolle er vielleicht später werden. "Obwohl das auch irgendwie langweilig ist, habe ich auch ein paar Tage in einem anderen Praktikum erlebt", sagt er. Mit der Berufswahl habe er aber sowieso noch Zeit. "Jetzt muss ich erst mal das Schuljahr wiederholen." Drei Brüder habe er. Einer davon habe im vergangenen Jahr Abitur gemacht. "Komischer Vogel", sagt Stepho. "Schlägt bei uns in der Familie voll aus der Art."

Das Leben im Sonnenland sei "ganz normal", findet sein Kumpel Syd. Den Nachmittag verbringe er meist im Internet. In einer digitalen Welt, die ihm weit offen steht. Sie ist der Fluchtweg, um für ein paar Stunden rauszukommen aus Billstedt. Dabei wollen Syd und Stepho das gar nicht so recht. "Ich will hier bleiben, hier kenne ich mich aus", sagt Stepho. Nur später, wenn er verheiratet sei und Kinder habe, dann wolle er in einem kleinen Häuschen auf dem Land wohnen. "In Glinde oder Oststeinbek", sagt Stepho nachdenklich. In seiner Stimme klingt Sehnsucht mit. Nach einem Sonnenland, über dem kein Schatten liegt.