Justizsenator Till Steffen spricht im Abendblatt-Interview zu den Häftlings-Selbstmorden. Er möchte einen zweiten Gutachter bei Diagnosen.

Hamburg. Nach dem dritten Häftlings-Selbstmord innerhalb weniger Monate kündigt Justizsenator Till Steffen (GAL) Konsequenzen an. Gutachten über eine mögliche Selbstmordgefahr sollen künftig von weiteren Psychologen überprüft werden. Zudem werden Häftlinge, bei denen eine sichere Diagnose nicht möglich scheint, künftig in Zellen ohne gefährliche Gegenstände untergebracht, sagt der Senator im Abendblatt-Interview.

Hamburger Abendblatt:

Herr Senator, schlafen Sie schlecht in letzter Zeit?

Till Steffen:

Mich beschäftigen die Suizide sehr. Ich versuche, mich hineinzudenken: Wie kommt ein Mensch zu diesem Schritt? Und wie kann man ihn davor bewahren? Man muss sich auch klarmachen, was für ein schwerer Eingriff eine Inhaftierung ist. Allerdings ergreift die Gesellschaft diese Maßnahme ganz bewusst, daran ist nicht zu rütteln.

Sie sind angetreten, nach der CDU-Alleinregierung den Justizvollzug menschlicher zu machen.

Man drückt nicht auf einen Knopf: "Haftbedingungen ändern", und schon wirkt sich das aus. Die Suizidrate in Gefängnissen ist deutlich höher als in der Gesellschaft, noch höher ist sie in Untersuchungs- und Abschiebehaft. In Hamburg ist die Zahl seit dem Jahr 2005 aber rückläufig. Die Maßnahmen greifen.

Welche Maßnahmen?

Seit 2005 arbeiten wir eng mit der Suizidhilfe des UKE zusammen, haben einen Leitfaden entwickelt und werten Suizide umfassend aus. Das Dilemma ist doch: Wir müssen Gefährdete positiv ansprechen, etwa Besuche organisieren und ihnen nicht mit dem Kugelschreiber auch noch den Lebensmut wegnehmen.

Mike S. hat vor seiner Haft versucht, sich und seine Familie in den Tod zu reißen. Wie kann er als "nicht suizidgefährdet" eingestuft werden?

Deshalb wurde sehr genau hingeschaut: Wie war seine Stimmung, wie reagierte er auf Nachrichten? Etwa die Zustellung der Anklageschrift, in der noch mal der ganze Tathergang geschildert war, an den er keine Erinnerungen mehr hatte. Die Einschätzung war, dass keine akute Gefahr vorlag. Er wurde aber in einer Gemeinschaftszelle untergebracht, um mit jemandem reden zu können.

Es kann doch nicht sein, dass jemand kurz nach einem Selbstmordversuch nicht mehr suizidgefährdet ist.

Es gab keinen Hinweis auf akute Gefahr. Zumal Mike S. auch mit seinem Zimmernachbarn an dem Abend vorher ein ausführliches und eher fröhliches Gespräch geführt hatte.

Warum wurde ihm das Gymnastikband, mit dem er sich erhängt hat, nicht weggenommen?

Die Benutzung war medizinisch angeordnet. Der Mann hatte gebrochene Beine und benutzte das Band sehr emsig. Aber man muss natürlich überlegen: Hätte das auch tagsüber gereicht? Eine absolute Sicherheit kann nie hergestellt werden - dieser Anspruch sollte aber auch nicht bestehen: Dann bleibt nämlich nur das Fesseln.

Haben Mitarbeiter Fehler gemacht?

Wir können nicht sicher sagen, ob die Einschätzung richtig war. Manchmal ist ein Suizid-Entschluss so fest gefasst, dass auch der beste Psychologe da nicht mehr rankommt. Manchmal geschieht das aber auch spontan.

Hätte man nicht gerade deshalb vorsichtiger sein müssen?

Richtig ist: Wir sind verpflichtet, uns auf eine Diagnose zu verlassen. Dem Zweifel wird zu wenig Platz eingeräumt.

Was haben Sie daraus gelernt?

Wir wollen ein Vier-Augen-Prinzip einführen, das bedeutet: Ein anderer Gutachter überprüft die Diagnose. Weitere Konsequenz wird sein, dass wir in die Suizidkonferenzen externe Fachleute holen, um den Blick von außen zu intensivieren. Wir müssen weg vom binären Denken in den Kategorien Ja oder Nein. Es muss akzeptiert werden, wenn Fälle nicht eindeutig sind. Dafür wollen wir gefährdungsarme Hafträume einführen: mit höherer Sicherheit, also ohne gefährdende Gegenstände, aber eben nicht so, dass dem Inhaftierten der Lebensmut genommen wird.

Die Betreuung von Strafgefangenen ist sehr intensiv. Sind genug Ressourcen und genug Personal vorhanden?

Die Frage stellt sich hier nicht. In allen Fällen gab es intensive Gespräche. Die Frage ist eher, wie man hinter die Absichten eines Menschen kommen kann.

Jetzt Mike S., davor die beiden Suizide in Abschiebehaft - müssen die Fälle getrennt beurteilt werden?

Je genauer man hinguckt, desto weiter laufen die Fäden auseinander. Es gibt keine Verbindung zwischen den Fällen, außer dass es sich um Inhaftierungen handelt .

Seit 2000 haben 21 Migranten versucht, sich in Abschiebehaft das Leben zu nehmen. Drängt sie der Justizvollzug in den Selbstmord?

Ich würde nicht sagen, dass Behörden eine drängende Rolle spielen. Die Zahl der Suizidversuche ist in der Abschiebehaft höher als im restlichen Strafvollzug. Der Inhaftierungsschock und die Perspektivlosigkeit sind oft immens.

Sind Sie für oder gegen Abschiebehaft?

Ich bin kein Anhänger der Abschiebehaft. Es wäre gut, an den Stellschrauben zu drehen, um so wenig Abschiebehaft wie nötig möglich zu machen. Das beginnt beim Zuwanderungsrecht.