In Hamburg wird das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung praktiziert. Doch mit welchem Erfolg? Eine Reportage aus dem Klassenzimmer.

Altona-Altstadt. In der fünften Klasse von Michaela Frank an der Stadtteilschule am Hafen gibt es kein einziges Kind mit einer Gymnasialempfehlung. „Trotzdem gibt es fünf Kinder, die Mathematikunterricht auf Gymnasialniveau bekommen“, sagt die 43 Jahre alte Klassenlehrerin und klingt dabei ein wenig stolz. Doch die Bandbreite variiere enorm: In Mathe arbeitet die Klasse mit fünf unterschiedlichen Büchern – vom Gymnasium bis zur Förderschule.

In derselben Klasse sitzt ein Mädchen aus Afghanistan, das erst vor gut einem Jahr angefangen hat, Deutsch zu lernen und jetzt schon seitenlange Geschichten in akkurater Schreibschrift schreibt. Ob und wie viel Schulunterricht sie vorher genossen hat, ist nicht genau geklärt. Es gibt auch Robert (Namen aller Schüler geändert), an dessen Seite immer wieder die Sonderpädagogin Heike Wozniak sitzt, wenn sein Blick wieder abschweift, er sich ablenken lässt und aus den Augen verliert, was er eigentlich gerade tun soll. Robert ist eines jener Kinder, um die im Augenblick in Hamburg eine heftige Diskussion zwischen den Stadtteilschulen und der Schulbehörde tobt – ein Inklusionskind, kurz „I-Kind“.

Die Beteiligten sind uneins darüber, wie viele Kinder mit Förderbedarf in den Bereichen Lernen, Sprache und emotionale und soziale Entwicklung (LSE) es tatsächlich gibt. Nach einer internen Erhebung der Vereinigung der Stadtteilschulleiter haben 15,8 Prozent der künftigen Fünftklässler, die im Sommer auf die Stadtteilschule wechseln, diesen sonderpädagogischen Förderbedarf, im vergangenen Jahr waren es 10,8 Prozent. Die finanziellen Zuweisungen der Schulbehörde sind auf acht Prozent ausgerichtet. Nach Berechnungen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) fehlen an den Grundschulen 200 und an den Stadtteilschulen 350 Stellen für gelungene Inklusion, das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung.

Schulsenator Ties Rabe (SPD) lässt gerade eine neue einheitliche Diagnose-Möglichkeit entwickeln. „Wir sind derzeit dabei, die Instrumente zur Diagnose von sonderpädagogischem Förderbedarf neu zu gestalten und zu vereinheitlichen“, sagt der Sprecher der Schulbehörde, Peter Albrecht. Die Frage sei, wie man eine Diagnostik so aufstellen könne, dass sie die Realität abbilde und auch nachvollziehbar sei. Dazu würden Gespräche mit Wissenschaftlern, aber auch mit Menschen aus der Praxis geführt. Bereits in den nächsten Wochen sollen die neuen Beurteilungskriterien fertig sein.

Michaela Frank ist froh, dass Hamburg die Inklusion eingeführt hat. „Wir haben früher auch mit diesen Kindern gearbeitet, auch da gab es welche, die unter dem Tisch lagen und wir mussten damit klarkommen. Aber jetzt habe ich Unterstützung und ich habe Kollegen, die mir ein solches Verhalten erklären“, sagt sie. Außerdem sei jetzt klar: „Ich muss nicht jedes Kind an dasselbe Ziel bringen.“ Deshalb sei Inklusion trotz der schwierigen Umstände eine Erleichterung, knapp die Hälfte der Stunden seien doppelt besetzt.

Zu Michaela Frank und Heike Wozniak sind die Kinder bereits mit dem „I-Kind“-Etikett gekommen. Die Diagnose des Förderbedarfs wurde schon in der Grundschule gestellt. Im täglichen Unterricht an der Ganztagsschule in Altona-Altstadt haben die Pädagoginnen nicht Zahlen und Ressourcen im Blick, sondern ihre Schülerinnen und Schüler. An diesem Morgen um 9.45 Uhr geht es im Fach Gesellschaft um ausgestorbene Tiere. Die Kinder haben die Tische zur Seite geschoben und sitzen im Stuhlkreis. Mit einem lauten und deutlichen „Guten Morgen“ heißen sie ihre Lehrerinnen willkommen. An den Fenstern kleben selbst gebastelte Papiertulpen. Die 18 Zehn- bis Elfjährigen sitzen artig in der Runde, blicken interessiert und warten, was da kommt. Die Mädchen tragen Leggings, Pullis und Stiefeletten, die Jungs Jeans oder Sporthosen, Kapuzenpullis und Turnschuhe. Michaela Frank spricht mit lauter und klarer Stimme, fragt, erklärt und lässt die Schüler antworten.

Über mangelnde Mitarbeit kann sie sich nicht beklagen, immer fliegen mehrere Hände hoch, dann sagt sie auch mal: „Es können nicht alle drankommen, es tut mir leid.“ Heike Wozniak tauscht immer wieder den Sitzplatz – ein fliegender Wechsel, der kaum auffällt. „Ich habe gesehen, dass sich diese Schüler gerade nicht gut konzentrieren konnten“, sagt sie hinterher. Wozniak ist ein eher leiser Mensch, oft genügt ein Blick von ihr und die Schüler verfolgen ihre Aufgaben wieder konzentrierter. Es ist eine der zahlreichen Doppelstunden, in der Frank und Wozniak gemeinsam arbeiten und sich intensiver um ihre Schüler kümmern können.

Als Mammut, Moschusochse, Auerochse, Wollnashorn, Höhlenbär und Höhlenlöwe ausreichend behandelt worden sind, löst Michaela Frank den Stuhlkreis auf. „Das kenne ich aus Ice Age“, ruft Carol zwischendurch und zeigt auf das Mammut. Jetzt sollen sie und ihre Klassenkameraden den Steckbrief eines prähistorischen Tieres ausfüllen. Sie können Bücher zu Hilfe nehmen, dürfen auch in Gruppen am Vierertisch arbeiten. „Die wechselnden Methoden sind wichtig“, sagt Sonderpädagogin Heike Wozniak, die auch Englisch unterrichtet, „bei der Gruppenarbeit lernen sie, zu hören, was andere sagen, sich selbst zurückzunehmen. Dabei darf es auch ein bisschen lauter werden“, sagt die 32-Jährige.

Auch die Sitzordnung ändert sich immer mal wieder. „Manche brauchen mal mehr Aufmerksamkeit, die holen wir weiter nach vorn. Aber das wird im Klassenrat besprochen“, sagt die Sonderpädagogin. Ihr und ihrer Kollegin ist wichtig, dass sich die Kinder auch gegenseitig helfen, „aber die guten Schüler dürfen nicht die Hilfslehrer werden“, sagt Michaela Frank bestimmt. Wer in Ruhe arbeiten will, darf auch mal Baukopfhörer aufsetzen, um deutlich zu machen, dass er in Ruhe arbeiten will.

Ein paar Kinder fangen ganz schnell an mit den Steckbriefen, andere verlieren sich auf den Seiten der ausgelegten Bücher. Heike Wozniak sitzt erneut neben Robert. „Ordentlich schreiben“, sagt sie zu ihm, „sonst kannst du es hinterher nicht mehr lesen.“ Er schreibt in einer krakeligen Druckschrift, Schreibschrift beherrscht er nicht. „Seine Druckbuchstaben sind sehr kreativ“, sagt die Sonderpädagogin und lässt ihn dann die Silben des Wortes „ge-nug“ klatschen, damit er nachvollziehen kann, warum man es nicht in der Variante „gen-ug“ trennt. Während bei vielen anderen Kindern die Spalten am Ende der Stunde weitgehend gefüllt sind, kommt Robert nicht sehr weit. Er ist ein freundlicher Schüler, interessiert, man merkt ihm seine emotionale und soziale Entwicklungsstörung nicht gleich an, aber wenn man ihn beim Arbeiten beobachtet, wird sie offenkundig. Es gibt weitere LSE-Kinder in der Klasse, aber sie brauchen an diesem Tag weniger individuelle Zuwendung und fallen nicht auf. „Genauso soll das sein“, sagt Michaela Frank, es sei das Ziel, dass man es nicht merke.

Aber die Unterschiede sind da: „Man muss gucken, dass man die Aufgaben so gestaltet, dass jedes Kind am selben Thema arbeitet“, beschreibt Klassenlehrerin Michaela Frank, die Deutsch und Gesellschaft (Geografie und Geschichte) unterrichtet, die große Herausforderung der Inklusion.

„Das Ergebnis wird ein unterschiedliches sein. Die einen finden viel mehr raus als die anderen, die lesen sich auch viel tiefer ein.“ Schwierig sei es, die Kinder mit Noten zu beurteilen. „Ich weiß, wenn ein Kind etwas super gemacht hat“, sagt sie. Das reiche trotzdem oft nicht für gute Zensuren.

Erst ab der siebten Klasse gibt es ein differenziertes Notensystem: G- und E-Noten. Die E-Noten von E 1 bis E4 entsprechen den Noten 1 bis 4 am Gymnasium. Die G-Noten von G 1 bis G6 entsprechen den Noten 1 bis 6, wie sie an den früheren Hauptschulen vergeben wurden. Die E 4 entspricht dabei der G 1.

Sabine Brinkmann hat die Inklusion an der Stadtteilschule am Hafen mit ihren drei Standorten von Beginn an aufgebaut. „Inklusion hilft uns, den Blick auf alle Kinder zu verändern“, sagt die Abteilungsleiterin. „Die Feststellung eines besonderen Förderbedarfs besagt ja, dass dieses Kind zum Lernerfolg individuelle Hilfe braucht.“

Der Effekt sei, dass die individuellen Lernfortschritte in den Vordergrund gerückt würden. Die Diagnose entspanne zudem Lehrer, Eltern und Schüler, sie mache klar, dass niemand schuld sei, wenn ein Kind nicht den festgelegten Leistungsanforderungen genüge. „Inklusion stellt aber hohe Anforderungen an die Lehrer. Wir müssen dafür sorgen, dass sie ausreichend unterstützt werden.“ Denn enorm wichtig sind für die Pädagogen die wöchentlichen Team-Sitzungen. „Je enger man im Team arbeitet, desto besser klappt es“, sagt Michaela Frank, die an den Wochenenden Newsletter an die Kollegen schickt, damit alle wissen, was in der darauffolgenden Woche ansteht.

Für Carola Fichtner, die Leiterin der Stadtteilschule Bahrenfeld, besteht im Moment die größte Herausforderung darin, „dass es uns gelingt, die entsprechenden Ressourcen ins System zu bekommen“. Sie gehört der Vereinigung der Stadtteilschulleiter an und macht noch einmal die Forderung deutlich, dass Förderstunden pro Kind von drei auf fünf Stunden pro Woche erhöht werden, um allen Schülern im Unterricht gerecht zu werden. „Wir stehen mit dem Rücken zur Wand“, sagt Fichtner.

„Schüler mit Förderbedarf gab es in den Klassen schon immer, die Schulen haben das mitgetragen.“ Das ist auch die Erfahrung von Anne Kettelhodt. Die Sozialpädagogin unterrichtet an der Stadtteilschule am Hafen am Standort St.Pauli. „Durch die Inklusion wissen die Schulleitungen, wie viele Schüler sie wirklich haben, die besondere Förderung brauchen“, sagt die 39-jährige Pädagogin, die Mathe und Religion unterrichtet. An diesem Vormittag ist sie mit Jessica Mattern in doppelter Besetzung beim Englischunterricht in der 5a. Insgesamt drei der 16 Schüler haben eine Empfehlung für das Gymnasium, es gibt vier Kinder mit LSE-Förderbedarf. Die beiden Pädagoginnen wissen aber noch viel mehr über ihre Schüler und arbeiten ganz eng miteinander. An diesem Tag sind sie sogar zu dritt. Silvia Neumann-Lübbert hat ihr Lehramtsstudium abgeschlossen und assistiert sechs Stunden pro Woche in der Klasse.

„One, two, three, eyes on me“ (eins, zwei, drei, Augen zu mir). Immer wieder, wenn Mattern das Gefühl hat, dass ihre Schüler sich haben ablenken lassen, holt sie sich mit diesen Worten deren Aufmerksamkeit zurück. Es geht in dieser Stunde um Hobbys. Und während die einen ihr Hobby in einem kleinen Aufsatz mit 50 Wörtern aufschreiben sollen, kämpft eine Reihe anderer Kinder mit einfachsten Sätzen. Aber alle Kinder dürfen danach ihre Ergebnisse präsentieren. So sieht Inklusion also aus. Jedes Kind lernt nach seinen Fähigkeiten, in seinem Tempo.

Solchen Unterricht kann ein Lehrer nicht alleine schaffen.