Theoretisch kann jedes behinderte Kind eine Regelschule besuchen. In der Praxis gehen die meisten zur Förderschule – weil sie besser sind.

Hamburg. Auf dem Elterninformationsabend dieser Stadtteilschule im Bezirk Nord vor wenigen Tagen fühlte sie sich wie eine Exotin. Tanja Viviani stellte Fragen nach „sonderpädagogischem Förderbedarf“, nach Ressourcen. Die anderen Eltern wollten wissen, ob es Hausaufgabenbetreuung gibt, wie der Ganztag geregelt ist. Tanja Viviani war die einzige Mutter, die ein behindertes Kind hat und für ihre Tochter eine weiterführende Schule sucht. Das ist für viele Eltern normal entwickelter Kinder in diesen Tagen häufig auch eine schwierige Suche. Für Tanja Viviani aber ist die Frage, auf welche weiterführende Schule ihre zehnjährige Tochter nach den Sommerferien gehen soll, noch heikler. Denn Vivien hat das Downsyndrom. Nicht so stark ausgeprägt, dass es ihr große Schwierigkeiten bereitet, aber doch gilt sie als geistig behindert, hat motorische Defizite und ist langsamer als die anderen.

Inklusion, das gemeinsame Lernen, das hört sich nach einer tollen Sache an. Theoretisch. Doch im wahren Leben ist es für Eltern von behinderten Kindern schwierig, nach der Grundschulzeit eine passende Schule zu finden. Trotz des Rechtes auf Inklusion gehen die Zahlen dieser Kinder an den Regelschulen zurück. „Die Eltern wägen ab und noch führt der Weg überwiegend auf die speziellen Sonderschulen“, sagt Pit Katzer, einer der Sprecher der Vereinigung der Schulleitungen der 59 staatlichen Stadtteilschulen.

„Die Bedingungen an den speziellen Sonderschulen sind für diese Kinder nach wie vor besser“, sagt Pit Katzer. Dort lernen sie in sehr kleinen Gruppen, bekommen ihre nötigen Therapien direkt in der Schule, einige haben sogar eigene Schwimmbäder für Therapieangebote. Das ist auch die Erfahrung von Martin Eckert, Geschäftsführer des Vereins Leben mit Behinderung Hamburg: „Die Eltern gucken sich die Schulen sehr genau an. Sie sehen die gute Ausstattung der Sonderschulen mit Fachpädagogen, Therapeuten und den erprobten Ganztagsbetrieb.“

Anders sei es bei Kindern, die einen Förderbedarf im Bereich Lernen, Sprache und Emotionale Entwicklung (LSE) haben. „Wenn man früher den Eindruck hatte, dass ein Kind eine gravierende Beeinträchtigung beim Lernen hat, dann kam es auf die Förderschule. Heute melden Eltern diese Kinder lieber für das gemeinsame Lernen an“, sagt Eckert. Hamburg sei diesbezüglich weiter als andere Bundesländer, aber jetzt müsse das Thema Schulqualität in den Mittelpunkt gerückt werden: „Wir brauchen Konzepte für das gemeinsame Lernen und gemeinsame Standards.“ Die Eltern seien im Umstellungsprozess sehr geduldig, „aber sie werden ungeduldig, wenn sie sehen, es geht nicht voran.“

Während sich der Anteil von LSE-Kindern an den Stadtteilschulen deutlich erhöht hat – im Jahrgang fünf besuchen 70 Prozent von ihnen eine „normale“ Schule, hat sich bei Kindern mit klassischen Behinderungen wenig bewegt. Von der Inklusion behinderter Kinder ist Hamburg also noch weit entfernt. Katzer sagt: „Wer das Recht auf inklusive Beschulung ernst meint, der muss die Bedingungen dafür schaffen.“ Denn mit Einführung der Inklusion seien die Bedingungen schlechter geworden und die Verunsicherung unter den Eltern wie Tanja Viviani größer.

Die Experten fordern mehr Personal, um den Ansprüchen gerecht zu werden

Hat es an Viviens Grundschule Moorflagen in Niendorf mit der Inklusion in den vergangenen fast vier Jahren wunderbar geklappt, muss ihre Mutter nun zwischen speziellen Sonderschulen für geistig Behinderte und einer Stadtteilschule entscheiden. „Vivien ist bislang unter ganz normalen Kindern aufgewachsen, ich sehe sie einfach nicht zwischen stark geistig und körperlich behinderten Mitschülern“, sagt sie. Sie selbst sei bei einem Besuch einer entsprechenden Schule erschrocken gewesen, wie stark behindert die Kinder dort sind. Und Vivien? Sie hat ein super Zeugnis, sagt ihre Mutter. Die Lehrerin lobt Viviens Selbstständigkeit. Das Mädchen liest und schreibt, kann Mathematik, es häkelt Mützen und hat gerade bei einer Aufführung ein Solo gesungen. Und nun soll Vivien zwischen stark beeinträchtigen Kindern weiterlernen? Andererseits habe die Förderkoordinatorin der Stadtteilschule ihr auch keine großen Hoffnungen gemacht. „Wenn zu wenig Inklusionskinder an der Schule angemeldet sind, gibt es auch weniger Ressourcen. Ob Vivien dann die nötige Hilfe bekommt, ist also völlig unsicher“, sagt Frau Viviani.

„Die Personalausstattung muss dringend erhöht werden“, fordert Pit Katzer für die Stadtteilschulen. Dazu müssen pro Schüler zwei zusätzliche Lehrerstunden pro Woche bereit gestellt werden. Notwendig ist auch ein Therapieangebot während der Unterrichtszeit. Bislang ist die Erich-Kästner-Stadtteilschule, an der Katzer Schulleiter ist, die einzige Stadtteilschule, die dies anbieten kann.

Bei den LSE-Schülern fehlt es nach Aussage von Katzer auch an Personal. Der Senat geht bei der Personalzuweisung von acht Prozent LSE-Kindern an den Stadtteilschulen aus, Katzer und seine Kollegen dagegen von 11,5 Prozent. „Wir benötigen Ressourcen für die tatsächliche Schülerzahl“, so Katzer. Würden mehr leistungsstarke Schüler als bislang an die Stadtteilschulen kommen, diente auch das einer besseren Inklusion. „Je höher der Leistungsstand, desto höher die Integrationskraft. Wenn die starken Schüler den schwächeren helfen, brauche ich nicht immer eine Doppelbesetzung“, so Katzer. Die aktuellen Anmeldezahlen gehen allerdings in eine andere Richtung.

20 bis 25 Millionen Euro bräuchten die Stadtteilschulen im Jahr zusätzlich, sagt Katzer. Inklusion sei sinnvoll: „An Förderschulen machen weniger als 20 Prozent der Schüler einen Bildungsabschluss“, sagt er, „in unseren früheren Integrationsklassen haben wir Kinder so gut fördern können, dass 75 Prozent einen Abschluss gemacht haben.“ Und Vivien? Ihre Mutter versucht auch, sie an einer privaten Schule anzumelden.