Die Geschichte des Findelbabys begann in einem Koffer - heute lebt das Mädchen bei Pflegeeltern. Für die Polizei bleibt der Fall ein Rätsel.

Hamburg. Für Eltern ist es das Schönste, wenn ihr Baby lacht. Lachen steht für Freude, Glück und Gesundheit. Marie ist sieben Monate alt und lacht gerne und viel. Zum Beispiel, wenn ihr Vater von der Arbeit nach Hause kommt und sie begrüßt. Und auch manchem Fremden schenkt sie ein Lächeln. Marie wächst in einem liebevollen Zuhause auf, bei Pflegeeltern, die das Mädchen adoptieren wollen.

So beschreibt Marion Schaffeld vom Jugendamt des Bezirks Mitte die Entwicklung von Baby Marie - dem Mädchen, dessen Geschichte in einem Koffer begann. "Sie ist quicklebendig, nimmt zunehmend Kontakt zu ihrer Umwelt auf und ruht in sich."

Maries Schicksal hatte Anfang des Jahres viele Hamburger bewegt. Am Nachmittag des 4. Januar war das damals einen Tag alte Baby bei Temperaturen um den Gefrierpunkt in einem Koffer vor einem Hintereingang des Congress Centers Hamburg (CCH) in der Nähe des Dammtor-Bahnhofs ausgesetzt worden. Ein Passant hatte den Pförtner des CCH auf das herrenlose Gepäckstück aufmerksam gemacht. Als dieser aus dem Koffer ein leises Wimmern hörte, fand er das Neugeborene. Wäre Marie der eisigen Kälte länger ausgesetzt gewesen, hätte sie vermutlich nicht überlebt. Im Altonaer Kinderkrankenhaus wurde das damals 2200 Gramm leichte und 45 Zentimeter kleine Findelbaby mit dem dunkelblonden Haar rund um die Uhr betreut. Von einer Schwester erhielt sie den Namen Marie. Den leiblichen Eltern, von denen bis heute jede Spur fehlt, wurde das Sorgerecht entzogen. Jugendamtsmitarbeiterin Marion Schaffeld übernahm die Vormundschaft. Seit über einem halben Jahr betreut sie das Mädchen und ihre Familie, verfolgt die positive Entwicklung.

"Inzwischen reagiert Marie auch auf Gegenstände", sagt Schaffeld. Am liebsten greift Marie mit ihren kleinen Händen nach Spielzeugen in grellen Farben. Dabei quietscht die Kleine vor Vergnügen. Wenn Marion Schaffeld über die Kleine spricht, beschreibt sie einen normalen gesunden Säugling. "Dass sich Marie so positiv, so normal entwickelt hat, ist nicht selbstverständlich", sagt sie. Da das Mädchen einen sehr schwierigen Start ins Leben hatte, hätte es durchaus passieren können, dass es unter traumatischen Störungen leidet, besonders schreckhaft ist oder Schwierigkeiten hat, Bindungen aufzubauen.

Als die Nachricht vom sogenannten Kofferbaby Hamburg und ganz Deutschland rührte, hatte das Jugendamt schon nach wenigen Tagen eine Familie für das Mädchen gefunden. Gleich mehrere Paare bekundeten Interesse an der Adoption des Neugeborenen - die Warteliste mit Pärchen, die am liebsten ein Baby bei sich aufnehmen möchten, ist lang. "Die jetzigen Pflegeeltern waren überglücklich und haben Marie bereits im Krankenhaus besucht", sagt Schaffeld. Dass das Pärchen die Kleine später auch adoptieren will, sei bereits vor der Vermittlung geprüft worden.

Seit rund sechs Monaten lebt Marie bei ihren Pflegeeltern irgendwo im Großraum Hamburg. Wo genau ihr Zuhause ist, welchen neuen Namen ihr die Eltern gegeben haben, und wer die Frau und der Mann sind, die das Findelkind aufgenommen haben, ist nur sehr wenigen Menschen bekannt. Sie wollen anonym bleiben. "Die Familie hat den Wunsch und das Recht, wie eine ganz normale Familie zu leben", sagt Schaffeld. Bekannte, Nachbarn, spätere Freunde aus dem Kindergarten und Erzieherinnen sollen nicht wissen, dass Marie "das Kofferbaby" ist. "Sonst könnte es zu Situationen kommen, die ganz schrecklich für das Mädchen wären." Marie könnte etwa auf dem Spielplatz Sätze wie "Wir spielen nicht mit dir, weil du das Kofferbaby bist" oder "Deiner Mutter war es egal, ob du stirbst" zu hören bekommen. "Findelkind zu sein ist ein Stigma. Dennoch sollen Heranwachsende erfahren, dass sie adoptiert worden sind und leibliche Eltern haben." Aber ihre Geschichte sollte Marie Stück für Stück von ihren Pflegeeltern erfahren. "Sie entscheiden, wann der richtige Moment ist."

Ob Marie jemals ihre leiblichen Eltern kennenlernen wird, ist ungewiss. "Findelkinder kommen in ihrer Entwicklung irgendwann an einen Punkt, an dem sie sich auf die Suche machen wollen", sagt Marion Schaffeld. Sie wollen erfahren, wo ihre Wurzeln sind, was damals geschehen ist, ob sie der Mutter oder dem Vater ähnlich sehen. "Wenn diese Fragen alle unbeantwortet bleiben, kann das für den Jugendlichen zu einer großen Belastung werden. Deshalb bedauern wir es sehr, dass die Ermittlungen der Polizei bisher erfolglos waren." Kurz nach Maries Auffinden habe man eine Stunde lang geglaubt, die Mutter des Mädchens sei aufgetaucht. Schaffeld: "Eine Frau hatte sich im Altonaer Kinderkrankenhaus gemeldet und angegeben, dass Marie ihre Tochter sei." Sie wollte den Säugling sehen und mitnehmen. Doch die Frau war psychisch krank - und nicht die Mutter.

Die Suche nach dem Menschen, der Marie ausgesetzt und damit ihren Tod in Kauf genommen hatte, gleicht der Jagd nach einem Phantom. Der einzige Anhaltspunkt, den die Polizei bisher je hatte, war der Mann auf den Bildern einer Überwachungskamera am Bahnhof Dammtor, der einen Koffer der Marke Omica trug. Die Ermittler nahmen an, dass der 20-Jährige das Omica-Gepäckstück, in dem Marie entdeckt wurde, in einem größeren Koffer derselben Serie transportiert hatte. Obwohl das Foto in vielen Zeitungen und in TV-Sendungen wie "Aktenzeichen XY ..." zu sehen gewesen war, schien sich niemand an das Gesicht des Mannes zu erinnern. Aufgrund der nur stockend eingehenden Hinweise im Fall Marie stellte die Polizei die aktive Suche nach dem Verdächtigen und den Eltern des Mädchens nach drei Wochen ein. Nach knapp zwei Monaten war der Koffer-Mann zwar identifiziert, aber er war nicht der Vater des Kindes. "Auch mit der Aussetzung des Säuglings hat er nachweislich nichts zu tun gehabt", sagt Polizeisprecherin Ulrike Sweden. Der Fall Marie bleibt ein Rätsel, die Polizei stochert weiter im Nebel. "Neue Ermittlungsansätze gibt es nicht. Sollte es neue Hinweise oder Erkenntnisse geben, wird die Akte wieder aufgemacht." Die Mordkommission ermittelt weiter wegen Aussetzung und versuchten Totschlags. Eingestellt wird der Fall erst, wenn die Tat verjährt ist - also nach 20 Jahren.

Während der Fall von Marie für die Polizei zunächst ungeklärt bleibt, ist er für das Jugendamt eine Erfolgsgeschichte. Marion Schaffeld: "Wir konnten dem Kind eine Perspektive geben - das macht mich froh." Der Fall Marie habe sie erschüttert. Dabei ist die zweifache Mutter jeden Tag mit schweren Schicksalen konfrontiert, mit Familien, in denen Gewalt statt Liebe herrscht. "Ältere Kinder, die misshandelt worden sind, haben schon in jungen Jahren ein dickes Paket zu tragen." Bei diesen kann nur die aktuelle Situation geändert werden. "Bei Marie hingegen konnten wir den Start ins Leben positiv beeinflussen", sagt die 57-Jährige.

Dass der leiblichen Mutter, sollte sie sich doch noch melden und ihre Tochter zurückhaben wollen, Marie zugesprochen wird, hält die Frau vom Jugendamt für nahezu ausgeschlossen. "Ein Kind ist schließlich kein Möbelstück", sagt Schaffeld, die über 30 Jahren Berufserfahrung als Vormund hat. Die Zeit spiele in solchen Fällen eine entscheidende Rolle. "Jeder Tag bewirkt, dass die Beziehung zwischen dem Kind und seinen Eltern intensiver wird." Für Marie sind die Pflegeeltern die wichtigsten Menschen in ihrem Leben. Sie vertraut dem Paar, das ihr Wärme und Liebe gibt. Wenn Marie einschläft, weiß sie, dass sie am nächsten Morgen in derselben Geborgenheit aufwachen wird, in der sie am Abend zuvor eingeschlafen ist. Dennoch: Maries leibliche Mutter könnte das Adoptionsverfahren verzögern und etwa vom Familiengericht prüfen lassen, ob sie das Sorgerecht oder zumindest regelmäßigen Kontakt zu ihrer Tochter bekommt. Das ist ihr Recht. Doch was gut für Marie ist, müsste ein Gericht entscheiden, immer zum Wohl des Kindes.

Marion Schaffeld wird das Findelbaby und seine Familie bis zur Adoption begleiten, voraussichtlich bis zum Sommer 2012. "Es ist schön zu sehen, wie glücklich Marie und ihre Pflegeeltern sind." Sie habe ein gutes Gefühl. Schaffeld: "Wenn es so weit ist, werde ich mich frohen Herzens von Marie verabschieden." Aber vergessen wird sie das Mädchen und sein Lachen nie.