Miriam Stein wurde ausgesetzt, wie Marie, das Findelbaby vom CCH. Sie wuchs behütet bei Adoptiveltern auf. Doch ihre Identitätssuche dauert an. Ein Erfahrungsbericht

Am 7. Juli 1977 wurde am Rathaus der südkoreanischen Großstadt Daegu ein ausgesetztes Baby gefunden. Eine genaue Rekonstruktion des Fundes war nicht mehr möglich, denn weder Behörden noch Medien beschäftigten sich damals mit dem Fall. Die Lokalzeitungen berichteten an diesem Tag von anderen Nachrichten, von steigenden Lebensmittelpreisen, vom Militärputsch in Pakistan. Aber kein Wort über den Säugling. Es gibt einige vage Anhaltspunkte in der Akte, kleine Hinweise, aber keinerlei Fakten. Es heißt, Polizisten hätten das Baby gefunden und ins katholische Waisenhaus gebracht. Das Kind soll in einem Schuhkarton gefunden worden und in Zeitungspapier eingewickelt gewesen sein. Das Baby war ich.

Die koreanischen Behörden gaben mir eine Aktennummer, K77-2178, und einen Namen, Yung Min. Als man mich fand, war ich kein Neugeborenes mehr, sondern laut Akte 60 Zentimeter lang und 4,6 Kilogramm schwer. Ich konnte meinen Kopf bereits eigenständig halten und nach einem Spielzeug greifen. Anhand dieser Daten errechnete man ein ungefähres Geburtsdatum. In meinem Pass steht der 5. April 1977. Man notierte im Waisenhaus: "Yung Min ist normal entwickelt, sowohl physisch als auch psychisch. Ihr Gesundheitszustand ist angeschlagen, sie braucht Pflege und ärztliche Behandlung." Ausreichend Pflege und Behandlung ließ man mir im Waisenhaus zukommen. In den kommenden Monaten entwickelte ich mich gut, wuchs fast vier Zentimeter und nahm drei Pfund zu. Im Bericht der letzten Untersuchung in Korea schrieb der zuständige Arzt am 28. Oktober 1977: "Yung Min sagt Ubba, Umma und Mamma. Sie reagiert auf ihren Namen, wenn man sie ruft."

Zehn Tage später wurde ich nach Deutschland adoptiert. Dort gaben mir meine Adoptiveltern einen deutschen Namen: Miriam, nach der älteren Schwester des Propheten Moses, die das Körbchen mit dem ausgesetzten Mosesbaby zum Strand der ägyptischen Prinzessin Bithiah paddelte und ihrem Bruder ein sicheres Leben ermöglichte.

Aus dem namenlosen Baby aus dem Schuhkarton in Korea wurde in Osnabrück Miriam Stein, eine Tochter, kleine Schwester, Enkelkind, Nichte, Cousine - ein gewolltes Kind. Ich erinnere mich, dass ich mir immer zwei Stofftiere wünschte, eine Mutter und ein Kind, die gemeinsam in meinem Kinderzimmer lebten und nicht mehr getrennt werden durften. Weil ich auswärts unter Heimweh litt, stellten meine Eltern mich bis zur fünften Klasse von Klassenfahrten frei. Bis ich elf war, verbrachte ich niemals mehr als eine Nacht ohne meine Eltern. Seit der Ankunft in Deutschland wurde ich von Albträumen und Schlafstörungen geplagt, die nach und nach abnahmen und schließlich verschwanden. Ich entwickelte mich, integriert in ein mittelständisches Familienleben, wie ein "ganz normales" Mädchen. Meine leibliche Mutter begleitete meine Kindheit wie ein Charakter aus einem Kinderbuch, eine naive Gestalt, in ein exotisches Gewand gehüllt, gesichtslos. Ihre Not zwang sie dazu, mich abzugeben, erzählten mir meine Eltern. Und diese undefinierte Not genügte mir als Kind, um mit liebevollen Gedanken an sie zu denken. Aber die Rolle der Mutter besetzte nicht sie, sondern meine Adoptivmutter.

Später, im Gymnasium, wurde ich im Biologieunterricht erstmals mit Genetik konfrontiert, es ging um Begriffe wie Erbkrankheiten und genetisch übertragbare Eigenschaften. Als Klassenprojekt sollte jeder einen Stammbaum über drei Generationen basteln und die eigene Augen- und Haarfarbe sowie Nasen- und Gesichtsform in Eltern und Großeltern nachverfolgen. Diese Aufgabe führte mir mein unlösbares Problem vor Augen. Statt des Stammbaums entwickelte ich ein ausgeprägtes Desinteresse an Biologie, denn wie ein Schatten blieb das Gefühl: Ich bin allein, ich habe keine Familie.

Wenige Wochen vor meinem 16. Geburtstag öffnete ich einen Brief vom Berliner Standesamt. Dort mussten wir meine Geburtsurkunde für ein Schülervisum für ein Austauschjahr in den USA bestellen. Aus dem kleinen grauen Amtsumschlag zog ich einen gestempelten und besiegelten A5-Bogen, auf dem nichts als mein Name stand. Miriam Yung Min Stein. Ansonsten keinerlei Angaben, Mutter und Vater unbekannt. Ich steckte das Dokument in Kopie mit den anderen in einen Umschlag und schickte ihn zur amerikanischen Botschaft. Danach verlegte ich die Geburtsurkunde.

Doch die Angst, ganz allein auf der Welt zu sein, blieb. Wer hatte eigentlich darüber entschieden, wo ich aufwachse? Und wie viel kann ich wert sein, wenn meine eigene Mutter mich einfach auf der Straße abstellt? Die Schlafstörungen und Albträume kamen zurück, ich fühlte mich ausgeschlossen und einsam. "Warum machst du es dir denn so schwer?", fragte eine Freundin. "Der Anfang deines Lebens war unglücklich, aber dann hast du in einer Familie wie jeder andere auch gelebt." Das klang vernünftig, doch in mir fühlte mein Leben sich keinesfalls normal an.

Rückblickend überrascht es wenig, dass ich nach dem Abitur aufbrach und ohne Ziel und ohne Plan losrannte. Die erste Hälfte meiner Zwanziger verbrachte ich auf Reisen um die ganze Welt. Dort tauchte ich, für eine Weile, in einen fremden, exotischen Alltag ein und versuchte, eine von denen zu sein. Nach einem festen Wohnsitz, nach einer Familie sehnte ich mich nicht, sondern nach alternativen Lebensentwürfen. Irgendwann stellte ich fest, dass auch zwischen den Koffern die gleichen Fragen blieben. Wo gehöre ich hin? Habe ich nicht wirklich, wie meine Freundin damals sagte, ein Leben wie alle anderen gelebt?

Das "Leben wie das aller anderen auch" ist Fluch und Segen zugleich für Findel- und Waisenkinder, die nach dem tragischen Anfang ihres Lebens in Adoptivfamilien aufwachsen. Segen, weil die Bedrohung von Armut und Hunger aufgehoben ist, weil Eltern und Geschwister Sicherheit und Liebe geben. Fluch, weil dieses Glück die tiefe Trauer um die verlorene, fremde Mutter, das verlorene, unbekannte Leben so schwer macht. "Warum bist du nicht einfach dankbar, dass man dir geholfen hat?" Vielleicht wäre ich dankbar, wenn man meiner leiblichen Mutter geholfen hätte, ihre Not zu lindern. Dann hätte sie ihr Kind, mich, selbst großziehen können. Gefunden habe ich sie übrigens nicht, trotz einiger Versuche. Sie bleibt die naive, gesichtslose Gestalt.

So allein, wie ich mich damals fühlte, war ich übrigens nie. Es ist unmöglich, die genaue Zahl von international ausgesetzten Kindern herauszufinden. Allein aus Südkorea sind in den letzten 30 Jahren mehr als 200 000 Findelkinder in die westliche Welt adoptiert worden. Laut Terre des Hommes wurden 2009 in Deutschland 36 Fälle von ausgesetzten Babys bekannt, 24 davon tot und zwölf lebend. Identitäten und Motivationen der leiblichen Mütter bleiben meistens unbekannt.

Als ich vor fünf Jahren erstmals nach Korea zurückgekehrt bin, traf ich viele andere Adoptierte auf der Suche nach ihren leiblichen Eltern und sich selbst. Egal, wie behütet die Adoptivfamilie lebt, gleichgültig, ob das Eltern-Kind-Verhältnis gut oder schlecht ist, die Suche nach Licht im Dunkel des eigenen Lebensanfangs ist bei allen Findel- und Waisenkindern gleich.

Je mehr diese Suche und die Sehnsucht nach Wissen respektiert und gefördert wird, je mehr dem einstigen Findelkind und dem späteren Erwachsenen gestattet wird, das verlassene Kind in sich zuzulassen und zu akzeptieren, je weniger Schuld wir fühlen, wenn wir um das Verlorene trauern, desto eher heilen die Wunden. Als Erwachsene stellte ich mich selbst vor die Wahl: weiter weglaufen oder eigene Entscheidungen treffen. Ich entschied mich für mich selbst. Dafür, das Risiko einzugehen, etwas zu behalten und aufzubauen, selbst auf die Gefahr hin, es wieder zu verlieren. Denn ich traute mir nun zu, den Verlust zu überleben.

Am 20. September 2009 kam mein Sohn im Kreißsaal sechs der Berliner Charité im Klinikum Virchow zur Welt. Sein Vater durchtrennte um 23.23 Uhr die Nabelschnur. Sieben Stunden später waren wir alle drei wieder zu Hause.

Es gibt gefühlte zehn Millionen Fotos aus seinen ersten drei Monaten - genau die Lebensmonate, die in meinem Leben im Dunkeln liegen. Wenn ich dieser Tage aus beruflichen Gründen reisen muss, begleitet mich meine Familie meistens. Wahrscheinlich werde ich meine Rastlosigkeit niemals ganz ablegen können, sie ist ein Teil von mir. Doch am Ende komme ich bei mir, bei meiner Familie an.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie des Schicksals, dass ich, das Mädchen aus dem Pappkarton, das Baby, das einst in Zeitungspapier eingewickelt war, heute in einer Zeitung einen Text verfasse, weil die kleine Marie in einem Koffer ausgesetzt wurde. Ich wünsche ihr alles erdenklich Gute.