In Kairo machen Plünderer die Straßen unsicher, Bürgerwehren schützen ihre Viertel mit Knüppeln und Schwertern. Ein Hamburger berichtet.

Kairo. Während Kairo in Anarchie zu versinken droht, ist ausgerechnet die Residenz des ehemaligen DDR-Botschafters zur Zufluchtsstätte für viele Deutsche geworden. "Die Nacht haben wir noch mit Bammel in unserer Wohnung durchgehalten. Draußen waren Schüsse zu hören. Sonntagmittag sind wir dann hierhergekommen", sagt der Hamburger Bertold Schweitzer, 48, am Telefon dem Abendblatt. Über ihm dröhnen Kampfjets im Tiefflug. Gemeinsam mit seinem elf Jahre alten Sohn Philipp ist Schweitzer in die Stadtvilla geflüchtet. Das Gebäude dient dem Deutschen Akademischen Austausch Dienst (DAAD) als Büro.

"Wir haben alle Stipendiaten und Dozenten hier versammelt und genug Lebensmittel gekauft. Wir haben uns verschanzt und warten jetzt ab", sagt Michael Harms, 46, der Leiter des DAAD-Büros. Ungefähr 50 Deutsche, darunter ein Dutzend Kinder, hoffen, dass die etwa zwei Meter hohe Mauer mit Spitzen aus Gusseisen vor der Stadtvilla Plünderer abschreckt. Ein ernstes Hindernis ist das flache Tor jedoch nicht. "Wir haben nur wenig und unbewaffnetes Sicherheitspersonal. Wenn Plünderer kommen, schließen wir uns im Keller ein", sagt Harms. Die Lage draußen sei ernst. "Es gibt kaum Polizei auf den Straßen, und nachts sind marodierende Horden unterwegs."

Hoffnung macht den Eingeschlossenen vor allem die Lage der Villa im vornehmen Stadtteil Zamalek. Weil dieser auf einer Nil-Insel liegt, kann die Armee ihn besser beschützen. Auch sei die deutsche Botschaft nur zehn Minuten Fußweg entfernt, sagt Harms. Viele der 5000 bis 7000 Deutschen, die im Großraum Kairo leben, sind deshalb aus den Außenbezirken auf die Insel gekommen.

Nur wenige Kilometer von Schweitzers Zuflucht entfernt herrscht das Chaos. Ausgebrannte Autowracks säumen die Straßen. Barrikaden, Trümmer und eingeschlagene Fensterscheiben sind an den Brennpunkten der Proteste allgegenwärtig.

Rund 150 Menschen sollen bislang ums Leben gekommen sein. Trotzdem ebbt der Protest nicht ab. Selbst nach Beginn der Ausgangssperre blieben am Sonntag Tausende Demonstranten auf dem zentralen Tahrir-Platz. An das Regime von Mubarak gerichtet, skandierten sie: "Er geht, wir gehen nicht." Die Kampfjets zirkelten immer tiefer, sodass an geparkten Fahrzeugen der Alarm auslöste. "Das ist Terror, sie versuchen den Leuten mit den Flugzeugen und Panzern Angst einzujagen", sagte einer der Demonstranten, Gamal Ahmed. "Sie versuchen, den Leuten Angst zu machen."

Die Sicherheitslage gerät im Laufe des Wochenendes außer Kontrolle. Plünderer, Räuber und Brandstifter terrorisieren die Stadt.

Tausende Häftlinge fliehen aus den Gefängnissen, darunter sind auch viele Schwerverbrecher und islamistische Extremisten. Allein aus dem Gefängnis Abu Saabel außerhalb Kairos entkommen rund 6000 Inhaftierte, berichtet das lokale Fernsehen. Aus anderen Haftanstalten werden stundenlange Schusswechsel zwischen Fluchthelfern, Gefangenen und Wachpersonal gemeldet. Es gibt Tote. Zudem machen Gerüchte die Runde, Mubarak würde Gefangene entlassen, um die Sicherheitslage zu verschärfen und hartes Durchgreifen zu legitimieren.

Die Armee nimmt bis Sonntagabend mindestens 450 mutmaßliche Plünderer fest. Mit Panzern hat sie viele Plätze abgeriegelt. Über der Stadt kreisen Hubschrauber "Die Ägypter setzen viel Hoffnung in die Armee, sie scheinen ihr mehr zu trauen als der Polizei", berichtet Schweitzer von Gesprächen mit einheimischen Freunden. Wo die Armee nicht ist, bilden sich Bürgerwehren. "Die sind mit Knüppeln und teilweise sogar Schwertern bewaffnet. Sie richten Straßensperren ein, das scheint ganz gut zu funktionieren", erzählt der Hamburger Schweitzer, der normalerweise an der Amerikanischen Universität in Kairo Philosophie unterrichtet.

Die Not macht die Kairoer erfinderisch. In einem Krankenhaus im Bezirk Abbasija mixen die Ärzte Molotowcocktails, um das Hospital gegen Kriminelle zu verteidigen, berichtet der arabische Nachrichtensender al-Arabija.

Rund um die Stadtvilla des DAAD in Samalek bilden sich lange Schlagen vor Lebensmittelgeschäften. In einigen Läden werden die Trinkwasserflaschen knapp. Banken bleiben auf Anordnung der ägyptischen Zentralbank am Sonntag geschlossen. Auch die Börse, die normalerweise sonntags die Handelswoche eröffnet, bleibt zu.

Auf dem Flugplatz von Kairo herrscht Augenzeugen zufolge "fürchterliches Gedränge". Vor allem viele US-Bürger, Türken und Italiener warten auf ihren Abflug. Einen genauen Überblick über die Zahl der gestrandeten Deutschen gibt es am Sonntag nicht.

Offenbar verlassen auch viele reiche Ägypter und arabische Geschäftsleute das Land. Fast 20 Privatflugzeuge seien am Sonnabend abgeflogen, meist nach Dubai, teilt ein Sprecher des Flughafens mit.

Auch Bertold Schweitzer möchte mit seinem Sohn möglichst schnell das Land Richtung Heimat verlassen. "Am Vormittag wurde ein Flug für Familien mit Kindern angekündigt, dann aber wieder abgesagt. Ich würde die Entwicklung lieber aus der Ferne weiterverfolgen." Trotzdem hat er vorgesorgt und Schlafsack und Decke mit in die Villa gebracht. "Ein leeres Büro zum Schlafen werden wir schon finden." Seine Frau, Politikdozentin an der Cairo University, habe rechtzeitig das Land verlassen.

Der elfjährige Philipp, gebürtiger Hamburger, nehme die neue und ungewöhnliche Situation gelassen auf, so Vater Bertold Schweitzer. "Zuerst war er ein bisschen verschreckt. Dann hat er mit großen Augen die Straßensperren angesehen. Aber letzte Nacht hat er gut geschlafen."