Der Tag hat die politische Landschaft in Hamburg nachhaltig verändert. Das Schulsystem ist zementiert, das Vertrauen in die Eliten erschüttert.

Mit den Geschichtsbüchern ist das so eine Sache. Viele Ereignisse erscheinen den Zeitzeugen groß und wichtig und schrumpfen Jahre später zu vergessenen Petitessen. Mit dem 18. Juli 2010 könnte es anders sein - zumindest in der Hamburger Geschichtsschreibung. Die grüne Bildungssenatorin Christa Goetsch brachte es so kurz wie derb auf den Punkt: "Das war ein Scheißtag." Politische Kommentatoren sprachen von einem "schwarzen Sonntag für Schwarz-Grün", einige politische Beobachter hörte man gar bedeutungsschwer raunen: "Nach diesem Tag ist nichts mehr so, wie es war." Das Alberne daran: Sie könnten damit richtig liegen. Denn der "Ich-bin-dann-mal-weg-Rücktritt" des Ersten Bürgermeisters, gefolgt von einem krachenden Kinnhaken gegen die Schulreformer binnen fünf Stunden bergen mehr politischen Sprengstoff, als anderswo in Jahren zusammenkommt.

Der etwas andere Schulfriede

Dabei hatte sich der Senat diesen Sonntag ganz anders vorgestellt. Eigentlich sollte der Volksentscheid den Endpunkt einer lähmenden Debatte markieren und das politische Reformprojekt zünden. Monatelang hatte die Stadt erbittert über die Schule der Zukunft gestritten. Im Kern des Konfliktes der Initiative "Wir wollen lernen" und der "Schulverbesserer" um Bildungssenatorin Goetsch stand das längere gemeinsame Lernen. Seit Jahrzehnten gelingt es der Bildungspolitik immer wieder, die Republik zu spalten.

War es in den 70er-Jahren die Idee der Gesamtschule, die das Bürgertum auf die Barrikaden trieb, ist es seit dem Zustandekommen der schwarz-grünen Koalition 2008 die Primarschule. Sie war eine politische Sturzgeburt. Nachdem die CDU im Wahlkampf immer wieder den Erhalt der Gymnasien betont hatte und die Grünen mit dem Konzept "Neun macht klug" einer Gemeinschaftsschule punkten wollten, kam aus den Verhandlungen völlig überraschend ein neunmalkluger Kompromiss heraus: sechs gemeinsame Jahre in einer Grundschule, danach das sechsjährige Gymnasium oder die Stadtteilschule. Ein mutiger Schritt, so mutig wie die Agenda 2010 des Altkanzlers Gerhard Schröder, aber auch so selbstmörderisch. Denn die Reform verletzte die Kern-DNA der Christdemokratie. Der konservative Publizist Konrad Adam spottete, die schwarz-grünen Koalitionäre "schlagen dem Gymnasium zunächst den Kopf ab und dann die Füße weg; das alles in der Hoffnung, dass der Rumpf ... sein Ziel nicht mehr erreichen kann und irgendwann von selbst abstirbt". Dabei ist das Gymnasium für fast alle Eltern sakrosankt - trotz PISA-Depression bleibt diese Schulform erste Wahl.

Kein Wunder, dass sich gegen die großen Umbaupläne der bürgerliche Widerstand formierte. Und auch wenn am Sonntag nur Hamburger abstimmen durften: Ihr Votum gegen das längere gemeinsame Lernen wirkt weit über die Grenzen der Hansestadt hinaus. Fortan weiß jeder Schulreformer um das Beharrungsvermögen in der Bevölkerung. Und jeder Politiker wird sich daran erinnern, dass es die Schulpolitik ist, mit der man Wahlen verliert. Die Hamburger Bürger haben das System der vierjährigen Grundschule über Jahre zementiert. Jetzt herrscht Schulfrieden - aber ein ganz anderer, als die Reformer ersehnt hatten.

Nach dem Paukenschlag von Hamburg dürften auch Plebiszite eine neue Bewertung erfahren. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass erst auf Drängen der Grünen Volksabstimmungen 2008 für den Senat verbindlich wurden. Das schmerzt die Vorkämpfer der direkten Demokratie besonders. Auch wenn die Verlautbarungen anders klingen - in der Partei, die in der Bewegung der Bürgerinitiativen wurzelt, wachsen die Zweifel.

Die neue Skepsis gegenüber Volksentscheiden

Der Volkentscheid vom Sonntag nährt die berechtigten Vorbehalte. Einmal mehr zeigt sich, dass Plebiszite vor allem das Mittel für die demokratisch sozialisierte Mittelschicht ist. Während in den bürgerlichen Stadtteilen wie Blankenese, Nienstedten oder Groß Flottbek mehr als die Hälfte der Stimmberechtigten wählen gingen, war es in sozialen Brennpunkten wie Billbrook nur jeder Achte. Noch gefährlicher: Durchschnittseinkommen und Wahlbeteiligungen laufen fast parallel; zwar kennt man dieses Phänomen auch von regulären Parlamentswahlen, allerdings nicht in dieser Deutlichkeit.

Doch man sollte die in den Reformkreisen weit verbreitete "Unzufriedenheit mit dem Wähler" nicht zu weit treiben. Wie man es wendet, wie man es dreht: 276 304 Hamburger haben für den Entwurf der Initiative "Wir wollen lernen" gestimmt, deutlich mehr, als das Quorum erfordert hätte, und mehr Menschen, als bei der vergangenen Bürgerschaftswahl für die SPD gestimmt haben. Übertragen auf die Bürgerschaftswahl hätte die Initiative 35,5 Prozent der Stimmen bekommen, eine beeindruckende politische Legitimierung. Und zudem ein massives Misstrauensvotum gegen alle Bürgerschaftsparteien, die zuvor von der Linkspartei bis zur CDU im Konsens den großen Schulfrieden proklamiert hatten. Es blieb ein Friedensschluss ohne Volk.

Volksentscheide zur Schulreform sind maximal emotional. Wo es um die eigenen Kinder geht, blenden Eltern Argumente aus und denken rational egoistisch. "Primarschule finde ich prima", heißt es da, "aber nicht für mein Kind." Und die Liste derer, die Gesamtschulen beziehungsweise Gemeinschaftsschulen predigen, ihre Kinder aber lieber aufs Gymnasium schicken, ist entlarvend lang.

Null-Bock-Generation bei den Konservativen?

Das alles hat der begnadete Bauchpolitiker Ole von Beust verkannt, unterschätzt, missinterpretiert. Und er hat den denkbar schlechtesten Moment für seine Demission gewählt. Was persönlich nach knapp neun Jahren als Bürgermeister verständlich erscheint, wirkt politisch verheerend. Hätte Ole von Beust wie kürzlich Roland Koch die politische Öffentlichkeit überrascht, wäre alles einfacher: Er hätte die Verantwortung für die politische Niederlage in der Schulreform übernommen und sich und der CDU einen sauberen Abgang verschafft.

Stattdessen aber hatte sich die Amtsmüdigkeit des Bürgermeisters im politischen Hamburg schon so lauffeuerartig herumgesprochen, dass offenbar alle außer der Grünen-Führung den Rücktritt für Sonntag erwartet hatten. Wer zögert, zaudert, die Gerüchte ein bisschen dementiert und ein bisschen kokettiert, beschädigt sein eigenes Tun - und sein Bild in den Geschichtsbüchern. Es passte zu dem Auftritt am Sonntagabend im herrschaftlichen Senatsspiegel, dass Ole von Beust verlassen zwischen zwei allegorischen Marmorfiguren stand. Links thronte die Gnade, rechts die Gerechtigkeit - Tugenden, an denen sich der Senat orientieren soll. Die persönliche Erklärung des Amtsmüden warb um beides. Indem er die Erfolge seiner Amtszeit arg herausstellte und mühevoll darlegte, warum jetzt der richtige Zeitpunkt zum Rücktritt gekommen sei, bat er um die Gnade der anwesenden Welterklärer der Medien und um Gerechtigkeit.

Dass dies Ansinnen nur von begrenztem Erfolg gekrönt sein würde, machte die Inschrift über seinem Haupt deutlich: "Gott mit uns" schwebte da oben - und jeder Bibelschüler weiß, dass die Bilanz der Werke und des Wirkens seit Christi Tod und Auferstehung stets vom Ende her erzählt wird.

Dieses Ende wirkt gerade in der christdemokratischen Wählerschaft maximal schal. Hier gelten Pflicht und Treue nicht nur als Sekundärtugenden. Es ist die Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet die konservative Union in den vergangenen Monaten pflichtvergessene Rücktritte in Serie produzierte und ausgerechnet die Grüne Claudia Roth von einer "Null-Bock-Generation" spottet. Wie sehr sich die Zeiten ändern.

Die Dämmerung von Schwarz-Grün

Zeitenwende - diese Überschriften bemühte man auch, als im Mai 2008 erstmals mit schwarz-grünen Stimmen ein deutscher Regierungschef gewählt wurde. Noch größer als der Stolz der Beteiligten war die Begeisterung der Öffentlichkeit. Zwei Jahre darauf ist der Enthusiasmus der Ernüchterung gewichen, den Mühen der Gebirge folgten die Mühen der Ebene. Die deutlich größeren Probleme in der Liaison hat dabei nicht die GAL, sondern die CDU. Denn das schwarz-grüne Projekt steht nicht nur für den Aufbruch zu alten Ufern, sondern auch für den Abbruch von Traditionen. Während die GAL meist sehr genau weiß, was sie will, weiß die CDU oft nur, dass sie an der Macht bleiben will. Ein bekanntes Phänomen: In der Großen Koalition im Bund wurde die Union sozialdemokratischer, in Hamburg ergrünt nun die CDU. Inhaltlich erinnert sie schon an eine Flipperkugel, die alle Themen streift mit dem Ziel, viele Punkte zu machen und im Spiel zu bleiben.

Nach dem Rückzug von Ole von Beust ist die Union runderneuert, aber inhaltlich entkernt. Es ist an dem designierten Nachfolger Christoph Ahlhaus, das inhaltliche Profil der CDU wieder zu schärfen, ohne den Koalitionspartner zu desavouieren. Die Quadratur des Kreises gleicht da einer leichten Aufwärmübung. "Die großen Parteien sind schlecht beraten, wenn sie sich zu sehr grünen Positionen annähern", warnt Forsa-Chef Manfred Güllner. Zudem muss Ahlhaus Wahlen gewinnen, obwohl Demoskopen wie Psephos-Geschäftsführer Hans-Jürgen Hoffmann den Ole-Effekt auf bis zu zehn Prozentpunkte beziffern.

Die Schockwellen des Hamburger Bebens trafen schon gestern Berlin. Obwohl Beusts Rückzug persönlich motiviert war, entfachte er sofort eine politische Debatte um Schwarz-Grün - mit offenem Ausgang. Ein Volksentscheid, ein Rücktritt - fünf politische Stunden im kleinen Hamburg, die noch über Monate große Wirkung entfalten werden.