Als Grass noch seinen Mann stand. Von Annerose, Aurora und allem, was nicht gesagt werden muss

Anfang April veröffentlichte Günter Grass - Sie, geneigter Leser, werden sich erinnern - in der "Süddeutschen Zeitung" ein Gedicht, in dem er Israel vor einem Krieg gegen den Iran warnte. Die meisten fanden das Gedicht grottenschlecht bis unterirdisch, die Lage im Nahen Osten hat sich seit dieser Zeit nicht gebessert, im Gegenteil. Und das Gedicht versprach nur in einer Zeile Hoffnung, als der Autor fragte: "Warum sage ich erst jetzt, gealtert und mit letzter Tinte" ... was gesagt werden muss?

Leider war es nicht "die letzte Tinte", der Autor ist weiterhin lyrisch inkontinent und tröpfelt im freien Vers-Strom vor sich hin. Er hat dem Unsäglichen, das er sagen zu müssen glaubte, einen Gedichtband "Eintagsfliegen" folgen lassen, in dem er Talkshows bedichtet, empfiehlt, den Bundespräsidenten durch einen Roboter wählen zu lassen (Achtung! Ironie!) und seinen Enkeln laut zuruft, den "Krempel, aus Sklavenarbeit gewonnen" (er meint Smartphones etc.) einfach wegzuwerfen.

Auch von der Liebe, dem Harndrang einst und jetzt, und dem Unterschied zwischen Jungsein und Prostata-Sorgen ist die lyrische Rede, aber wer denkt, das sei besser als die politische Stammtisch-Kannegießerei, merkt schnell: Da kommt Grass vom Regen in die Traufe und liefert auch im Wortgefäß eine Urinprobe.

Hier also das Gedicht, das offenbar ein unverbesserlicher Stehpinkler verzapft hat: "In jungen Jahren konnte ich / mit strammem Strahl / die Namen der jeweils Geliebten, / selbst längere wie Annerose und Aurora, / in den Schnee pinkeln, sogar / mit zärtlichem Vorwort und Nachwort; / sobald es gegenwärtig schneit, / bin ich dankbar, wenn es gerad noch / zum Bekenntnis für Ute reicht."

Zur Erläuterung: Ute ist die Grass-Gattin. Man ahnt, dass sie hofft, dass es so bald nicht schneit und dass sie ihm die Bettpfanne unterschieben kann, bevor es zum Äußersten kommt.

Das Gedicht speist sich aus zwei Quellen oder Blasen, wenn man so sagen darf. Einmal aus dem Ausspruch des großen Malers Max Liebermann, der beim Anblick eines Bildes eines schwachen Kollegen gemurmelt haben soll: "So wat piss ick Ihnen in den Schnee!" Nach einer anderen Version soll der großbürgerliche Impressionist, dessen Herz links schlug, gesagt haben, als man ihm vorschlug, den damaligen Reichspräsidenten Hindenburg zu malen, dass er den in den Schnee pinkeln könne.

Die andere Quelle ist der galizische Witz aus der Zeit, als die Garnisonsoffiziere noch handschriftlich mit ihresgleichen und der Liebsten verkehrten: Da wird ein Offizier aus dem Kasino verbannt, weil er nachts in den frisch gefallenen Schnee gepinkelt hatte: "Natascha, ich liebe dich!" Und zwar unverkennbar, Natascha war die 17-jährige "federführende" Tochter des Regimentkommandeurs, in ihrer Handschrift. Was bei Tageslicht grafologisch offenbar wurde.

Bei Günter Grass aber wird das zu einer Altherrenzote, die sich - "Ho! Ho! Alter Schwerenöter!" - erinnert, wie er sich in jungen Jahren seine Registerarie, von "Annerose bis Aurora", stramm aus der Blase strunzte, wo er jetzt leider nur noch die letzte Tinte nicht halten kann.