Dass die Öffnung der DDR-Grenze 1989 zumindest verfahrenstechnisch ein Missverständnis war, daran sind wir beim Gedenken an den Fall der Berliner Mauer vor 20 Jahren gebührend erinnert worden. Dass bei diesem Missverständnis das notorisch unklare, der Interpretation bedürftige Amtsdeutsch eine Rolle gespielt hat, sollten wir auch nicht vergessen. Ein hoher DDR-Funktionär, das Politbüromitglied Günter Schabowski, ist an dem Versuch gescheitert, das Amtsdeutsch weniger hoher Funktionäre so zu interpretieren, wie es gemeint war - und dieses Scheitern hat zum Fall der Mauer geführt.

Nur sieben Sätze stehen auf dem Papier, das Egon Krenz, Nachfolger des entmachteten Erich Honecker, während einer noch laufenden Debatte im Plenum des ZK dem Genossen Schabowski zur Bekanntmachung, aber ohne Erläuterungen in die Hand drückte, als der zu seiner mittlerweile legendären Pressekonferenz aufbrach. Es ging der DDR-Führung ausschließlich um eine "Veränderung der Situation der ständigen Ausreise von DDR-Bürgern nach der BRD über die CSSR" (die sich über die DDR-Flüchtlinge bereits beschwert hatte), und "Ständige Ausreise" stand auch über jenem Papier. So entging es vielen Spitzengenossen wohl, dass vier Beamte im DDR-Innenministerium in den "Beschlussvorschlag" einen Absatz über "Privatreisen nach dem Ausland" hineingeflickt hatten, die "ohne Vorliegen von Voraussetzungen beantragt werden können. Versagungsgründe werden nur in besonderen Ausnahmefällen angewandt." Visa sollten von der Vopo "unverzüglich" erteilt werden.

Schabowski war das Papier, das er vor der Pressekonferenz allenfalls überflogen hatte, nicht geheuer. Er las ganze Sätze einfach nicht vor, etwa den über die "Versagungsgründe". Auch dass "ständige Ausreisen" nicht nur über alle Grenzübergangsstellen zur BRD, sondern auch "zu Berlin-West" erfolgen könnten, mussten die West-Korrespondenten erst aus ihm herausfragen. Bei der Antwort auf die Frage nach dem Inkrafttreten der neuen Regelung übersah Schabowski die zweite Seite des Papiers, auf der ausdrücklich der 10. November, mit Sperrfrist um vier Uhr früh, genannt war; stattdessen geriet ihm wohl das "unverzüglich" der Visa-Erteilung in den Blick, und er stotterte: "Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich."

Und was lehrt uns das? Interpretationen des notorisch unklaren Amtsdeutschs können, selbst wenn sie falsch sind, durchaus segensreiche Wirkungen haben.