Intendant Ulrich Waller hat ein Open-Air-Stück auf „seiner“ Dorf-Piazza inszeniert, mit Schauspielern aus Hamburg und Italien

Das Verrückteste ist eigentlich: dass es alles echt ist. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages wärmen den Kirchturm der Chiesa della Santissima Annunziata, er leuchtet in hellem Terrakotta-Orange. Eine besonders räudige Katze schleicht über die Piazza Castelli und beguckt sich misstrauisch das Treiben. Von irgendwo wird tatsächlich „Eh, Raggazzi!“ gerufen, ein junger Mann trägt eine aufgeschnittene Wassermelone durch die Szenerie, eine Frau im Blumenkittel hat sich ein gefaltetes Handtuch auf ihre Fensterbrüstung gelegt, um gemütlicher beobachten zu können. Hin und wieder knipst sie ein paar vertrocknete Geranienblüten von den Balkonpflanzen. Der uralte Dorfschneider, vor dessen Atelier-Tür eine Band ihre Instrumente so aufgebaut hat, dass sie den Zugang weitgehend blockieren, stützt sich auf seinen Stock und schleicht gebückt, lächelnd und nach allen Seiten grüßend über die Piazza. „Volaaare“, singt die hübsche Sängerin der Band, ausgerechnet, und der Schneider an seinem Holzstock summt leise mit.

Es könnte, ehrlich gesagt, kaum kitschiger sein. Und kaum schöner.

Das Dörfchen San Gusmè könnte eine Filmkulisse sein

San Gusmè in der Provinz Siena sieht aus wie eine Filmkulisse. Vor den Toren der alten Stadtmauern aus dem 14. Jahrhundert, wo wahrscheinlich schon damals das Grillenzirpen die Juli-Hitze verstärkte, wächst der Chianti. Die Bewohner, keine 200 hat das winzige Dorf mit seinen wenigen schmalen Gassen, wirken wie Komparsen. Ulrich Waller lacht zufrieden. Vielleicht hat sich der Hamburger Theatermacher auch deshalb gleich wohl hier gefühlt. 1985 ist Waller das erste Mal in der Gegend gewesen, sein Bruder hatte ihm die Toskana zur Erholung nach einem anstrengenden Sommerfestival empfohlen. Zehn Jahre später kaufte Waller eines der typischen Steinhäuser zwischen Weinterrassen und Olivenbäumen, ein ehemaliges Bauernhaus am Hang mit dem schönen Namen „Vincaia“. Seither fährt der Intendant des Hamburger St. Pauli Theaters in die Nähe von Siena, wann immer es geht. „Andere sind ständig auf Sylt, ich komme halt hierher“, sagt er. Und ist doch längst alles andere als ein durchschnittssonnenverliebter Toskana-Urlauber.

Daran ist natürlich das Theater schuld – und Wallers Obsession, auch der Weltgeschichte hinter die Kulissen blicken zu wollen, auch dann, wenn es womöglich wehtut. Schon zum zweiten Mal bereitet der Regisseur, der nicht nur das Programm des St. Pauli Theaters verantwortet, sondern unter anderem das Udo-Lindenberg-Musical „Hinterm Horizont“ inszeniert hat, in diesem Sommer die Vergangenheit seiner italienischen Wahlheimat auf. In einem Freiluft-Theaterstück auf der zentralen Piazza von San Gusmè. Das „Theater der Erinnerung“ nennen Waller und seine Frau, die Regisseurin Dania Hohmann, sowie ihr italienischer Komplize Matteo Marsan ihre Gruppe, die aus mitgebrachten Hamburger Schauspielern, italienischen Fernsehstars und lokalen Laienspielern, den sogenannten „Bruscellanti“, besteht.

„Spaghettifresser“ treffen „Kartoffelfresser“

In einer Mischung aus Reenactment, Szenencollage und Musiktheater widmet sich Waller der Geschichte der italienischen Immigranten, die seit den 50er-Jahren – auch aus der Gegend um San Gusmè – nach Deutschland kamen, um für Volkswagen und andere große Konzerne als „Gastarbeiter“ tätig zu sein. „La grande gelata“ heißt das Stück, der Titel spielt auf den großen Frost an, der Mitte der 50er-Jahre die Olivenernte der ohnehin bitterarmen Toskana zunichtemachte und viele junge Männer dazu zwang, das Arbeitsangebot des deutschen Staates anzunehmen.

Waller, Hohmann und Marsan ­haben aus Zeitzeugenberichten, Filmausschnitten, Interviews und typischen Liedern jener Jahre („Zwei kleine Italiener“) ein deutsch-italienisches Stück komponiert, das die Vorurteile beider Länder („Spaghettifresser!“ – „Kartoffelfresser!“) ernst nimmt und dennoch amüsant abbildet. Als „Amara Terra Mia“ stand eine Zwei-Personen-Fassung des Stücks bereits auf dem Saisonplan des St. Pauli Theaters. Gespielt haben das in Hamburg die Deutschitalienerin Adriana Altaras und ihre italienische Schauspielkollegin Daniela Morozzi, eine Art italienische „Tatort“-Kommissarin aus Florenz, deren ähnlich bekannter Fernsehpartner Gianni Ferreri ebenfalls bei „La grande gelata“ spielt (und wie Daniela Morozzi in praktisch jeder Espressobar erkannt wird).

Nur drei Tage wird in San Gusmè geprobt, Bühne und Zuschauertribüne füllen den kleinen Hauptplatz des Örtchens nahezu komplett. Lange Holztische mit hausgemachtem Brotsalat, dicken Scheiben Pecorino und süßer Birne, Schinken, Melone und Salami halten auf der hinteren Piazza die Bruscellanti bei Laune. Sie sind aus purer Leidenschaft dabei, sind eigentlich Klempner oder Schulbusfahrer, Studenten oder Schüler, ein Antiquitätenhändler und eine Verwaltungsangestellte. Eine heterogene Truppe, die einmal im Jahr gemeinsam ein Theaterstück aufführt.

„Man verabredet sich um halb sieben zur Probe, aber erst mal müssen alle essen“, erzählt Waller mit nachsichtigem Schulterzucken und grinst. Er hat es längst aufgegeben, so etwas wie hanseatische Probendisziplin zu verordnen. Auch die professionellen Schauspieler brauchen ihre ausführliche Mittagspause. „Ohne Essen geht in Italien schon mal gar nichts los.“ Das ist weniger „dolce far niente“ als vielmehr eine Frage der Priorität: Geprobt wird dann halt zwischen halb neun und Mitternacht, Regieteam und Technik bleiben zum Aufbauen und Einleuchten, bis es morgens wieder hell wird. „Hier zu arbeiten ist keine Frage des Talents“, stellt Adriana Altaras resolut klar, während sie mit den Bruscellanti den Halbsatz „Deutsche Mädchen gut!“ übt und dabei großzügig Kusshände verteilt, „es ist eine Frage der Kondition!“

Aus Hamburg sind die Schauspieler Peter Franke und George Meyer-Goll mitgefahren. Die neunjährige Emma Cécilia aus Jenfeld spielt eine Kinderrolle, die Schauspielerin Anneke Schwabe, die auch sonst in fast jedem Musical des St. Pauli Theaters besetzt ist, pendelt auf der Piazza zwischen Bühne und Baby. Ihre kleine Tochter ist erst drei Monate alt und wird noch gestillt, trotzdem schafft Anneke Schwabe es irgendwie, immer rechtzeitig zum Einsatz am Mikrofon zu stehen. Auch das macht diese Produktion aus: dass alle ein Urvertrauen haben, dass am Ende wirklich ein Theaterstück dabei herauskommt. Zwei, drei Tage „komplettes Chaos und Schlafentzug“, nickt Waller. „Aber dann fliegt das Ding!“

Ulrich Waller weiß, wovon er spricht. Schon einmal hat er hier die schmerzliche Vergangenheit seiner direkten toskanischen Nachbarn aufgearbeitet. Mit einem Theaterstück vor drei Jahren, das von einem Massaker in der unmittelbaren Nähe erzählt, einem Massaker, das deutsche Soldaten 1944 an der lokalen Bevölkerung verübten, an Frauen und Kindern, auch ein Säugling war unter den neun Toten. Waller hatte auf dem lokalen Friedhof einen Gedenkstein entdeckt, der daran erinnerte. Oft ging er daran vorbei, seine erste Ehefrau, die deutsche Regisseurin und Schauspielerin Elke Lang, liegt in San Gusmè begraben. „Ich möchte die Geschichte wissen, wie sie war“, sagt Waller, selbst Jahrgang 1956. „Ich möchte mich zu ihr verhalten. Vielleicht liegt das an meiner Generation. Unsere Väter waren ja damals an alldem beteiligt.“

Ein bisschen ist es alles wie bei Don Camillo und Peppone

„Albicocche rosse – Blutige Aprikosen“ hieß die erste Produktion des „Theaters der Erinnerung“, aus Deutschland kamen damals neben ­Adriana Altaras auch die Schauspieler Peter Jordan und Jörg Kleemann dazu, der wie Jordan lange am Thalia Theater engagiert war. Am 4. Juli 2014, dem Jahrestag des Massakers, war die Premiere, nach der sich Nachbarn und Überlebende das erste Mal darüber und über die unklare, in Italien tabuisierte Rolle der italienischen Partisanen austauschten. Man wurde sich an diesem Abend nicht einig – aber es war ein Anfang gemacht. Viele danken Waller und seinem Team noch heute dafür. „Es hat etwas angestoßen“, sagt der Regisseur, „nicht nur in uns, auch hier in der Gegend.“ Es hätte schiefgehen können, und ohne italienischen Partnerregisseur wäre es vielleicht schwierig geworden. Spätestens seit diesem Abend aber ist Ulrich Waller mehr als nur ein weiterer Deutscher der Toskana-Fraktion. Er ist Teil der lokalen Gemeinschaft.

„,Albicocche rosse‘ ist das wichtigste Stück, das ich jemals gemacht habe“, sagt Jörg Kleemann, der auch für das zweite Erinnerungsstück wieder nach San Gusmè gekommen ist, um dabei zu sein. Die deutschen und italienischen Profis erhalten zwar (anders als die Bruscellanti) eine kleine Gage, „aber dafür mache ich das nicht“, betont der Schauspieler. „Ich bin Fankurve!“ Diese und die letzte Arbeit seinen nicht vor allem künstlerisch entscheidend, sondern persönlich. „Man gibt den Leuten hier so viel. Und man bekommt selbst so viel zurück. Und damit meine ich ausdrücklich nicht nur, dass es natürlich fast surreal ist, nachmittags am Pool unter italienischer Sonne zu liegen und seinen Text zu lernen.“ Der Monolog, den Jörg Kleemann im „La grande gelata“ als verzweifelter Deutscher über die südländischen Gastarbeiter hält, die plötzlich da sind, aber doch so fremd bleiben, „den hätte auch mein Vater damals so halten können“.

Heute gibt es, jedenfalls zwischen den hier Anwesenden der beiden Nationen, keinerlei Berührungsängste. Italiener und Deutsche – auf der Bühne ebenso wie im Publikum – lachen gemeinsam über die jeweiligen Vorurteile, proben gemeinsam, essen und trinken gemeinsam. Die Frauen der Gemeinde haben für die Truppe gekocht und Obst geschnitten, der alte Schneider, der den Schlüssel zum Kirchturm besitzt, sorgt dafür, dass die Glocken nicht alle halbe Stunde die Szenen unterbrechen. Die Kostüme hängen in einem Circolo, einer Art Melange aus Gemeindezentrum und kommunaler Bar, von denen es in San Gusmè gleich zwei gibt: den der Kommunisten und den der Kirche. Ein bisschen wie bei Don Camillo und Peppone. In dem einen Circolo wird für das Theaterprojekt gebügelt und geschminkt, in dem anderen nach der Probe Hauswein und Aperol ausgeschenkt – zu christlichen Preisen. Der Pfarrer persönlich schließt nach dem letzten Gast ab.

Waller spricht Italienisch – der Rest ist Gestikulieren

„Es ist schon alles ein bisschen wahnsinnig, was wir hier machen“, gibt Waller zu, und man spürt, dass gerade dieser deutsch-italienische Wahnsinn ihm ausgesprochen gut gefällt. Noch am Abend der Premiere stellt er, nur Minuten vor der Vorstellung, die italienischen Untertitel für die deutschen Szenen zusammen. Seine Regieanweisungen gibt er ohnehin auf Italienisch, das ist er seiner langen Verbundenheit mit der Region schuldig. Der Rest ist Gestikulieren. Wenn der deutsche Requisiteur mit rotem Kopf und faustschüttelnd auf einige junge Bruscellanti zustürmt, die sich das auf der Bühne benötigte Dosenbier vom Requisitentisch gemopst und zum Brotsalat genehmigt haben, dann ist das auch ohne jegliche Vokabelkenntnis deutlich zu verstehen.

„Bambini, mangiare!“, ruft jemand die Kinderdarsteller zum Essen vor der späten Premiere – ein Haufen Mädchen mit dicken Zöpfen und im schwarzen Schulkittel-Kostüm läuft kichernd um die Ecke. Ein Moment wie aus der Mirácoli-Werbung. „Merda, merda, merda!“, rufen sich die Darsteller hinter der Bühne zu, „Toi, toi, toi!“. Thomas Collien, Wallers Co-Intendant am St. Pauli Theater, ist mit zwei Förderern und drei Urnen angereist. Requisite, für jede Vorstellung eine. Der alte Schneider hat sich in seinen Sonntagsstaat geworfen und sitzt in einer der ersten Reihen. Die Frau auf dem Geranienbalkon legt ihr Handtuch auf der Brüstung bereit.

Im Stück fällt der Satz „Die Italiener achten die Deutschen, aber sie lieben sie nicht. Die Deutschen lieben die Italiener, aber sie achten sie nicht.“ In San Gusmè tun, wenigstens an diesem Abend, beide Seiten beides.

Die Reise nach Castelnuovo Berardenga wurde unterstützt vom St. Pauli Theater.