Das Schanzenviertel ist die Bühne für eine tägliche Aufführung, deren Ausgang ungewiss ist. Ein Rundgang, bevor die Gewaltorgie in der Nacht begonnen hat

Am späten Donnerstagabend wollen sich zwei Jugendliche mit ihren EC-Karten noch ein paar Scheine aus den drei Geldautomaten der Haspa-Zentrale am Schulterblatt ziehen, als zwei gleichaltrige Vermummte mit dem großen Hammer kommen. „Halt, zuerst holen wir noch unser Geld raus“, sagen die beiden. Okay, murmeln die aus Italien angereisten Krawallos. Und zertrümmern, echt großzügig, erst anschließend die Automaten.

Geld regiert also doch die Welt.

Selbst in der Schanze, die in diesen Tagen zum Treffpunkt weltweiter Globalisierungsgegner wird. Aus allen Ländern sind die G20-Gegner in Hamburgs buntestes Viertel geströmt, das nun wieder einmal als offene Bühne für eine tägliche Aufführung mit absurden Szenen und ungewissem Ende herhalten muss. Die Zeichen stehen auf Tragödie – eine Prognose, die sich am Freitagabend als allzu wahr herausstellen sollte.

Jetzt steht Holger Mütze vor den Geldschaltern, die nichts mehr ausspucken. Direkt daneben ist der Eingang zum Jesus Center. Seit fast 25 Jahren leitet der freundliche Mann mit den weißen Haaren diese soziale-diakonische Einrichtung mit christlichem Hintergrund. Eine feste Institution im Viertel. Seit 1970 werden hier vor allem bedürftige Menschen beraten und betreut. Es gibt einen Mittagstisch im Café Augenblicke für 1,50 Euro, ein Bollerwagen-Spielmobil für die Kids und einige Wohnungen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.

Die Mächtigen zwei Kilometer entfernt – und unerreichbar

Holger Mütze ist 54 Jahre alt. Und wenn man ihn fragt, was für eine Botschaft er an die Mächtigen der Welt hat, die nur zwei Kilometer entfernt tagen und doch unerreichbar sind, fragt er zurück: „Wie viele Stunden hätte ich?“ Dann sagt er aber doch, er würde sich wünschen, die Verfolgten und Hungernden hätten immer die besondere Aufmerksamkeit der Herrschenden. „So wie bei unserem Namensgeber: Jesus.“ Doch am Ende sei es leider immer noch so, dass die Interessen der Konzerne obsiegen. „Und daraus folgt Flucht und Vertreibung.“

Wenn man so will, hat Anne Harms jeden Tag mit den Versäumnissen der Weltgemeinschaft zu tun. Seit knapp 20 Jahren arbeitet die Frau mit den längeren blonden Haaren im Schanzenviertel hautnah mit den Menschen zusammen, die ihre Heimat aus den unterschiedlichsten Gründen verlassen müssen. Die Leiterin der kirchlichen Beratungsstelle Fluchtpunkt hat sich im Café Unter den Linden an der Juliusstraße einen Kakao bestellt. Schräg gegenüber liegt das Restaurant Berliner Betrüger.

An den Hauswänden steht „Wir wollen eure Kriege nicht“. Und „Menschenrechte tralala, Krieg ist für Profite da“. In regelmäßigen Abständen fahren Mannschaftswagen der Polizei in Kolonnen durch die Straßen des Schanzenviertels, dessen Name auf eine der Hamburger Stadtmauer vorgesetzte Verteidigungsanlage zurückgeht.

Wie überall in der Stadt dominiert in diesen Ausnahmetagen auch hier das Tatütata. Dabei wäre nichts dringender, als die ernsthafte inhaltliche Auseinandersetzung mit den Ursachen für Flucht und Vertreibung. Dass diese weitgehend auf der Strecke bleibt, liege aber nicht an den Demonstranten, sagt Anne Harms: „Jedes Transparent im Viertel hat einen Träger, der für eine umfassende Aufarbeitung mit dem Thema steht.“ Die überall sichtbaren Slogans seien nur „die Quintessenz einer intensiven Befassung mit der Problematik“.

Dass sich die Regierenden überhaupt treffen und miteinander verhandeln, sei nicht zu kritisieren. „Das ist notwendig und erforderlich“, sagt Anne Harms. Was sie stört, ist der Ort. „Ich bin kein Freund von sicherheitsrelevanten Großveranstaltungen.“ Die Frage sei, ob sich die Bürger solchen Aufwand gefallen lassen müssen unter dem Vorwand, dass die Mächtigen der Welt ernsthaft an Lösungen interessiert seien. Anne Harms fehlt der Glaube. „Die Politik der vergangenen Jahre hat doch genau das Gegenteil bewirkt“, ist sie sich mit Holger Mütze einig.

Anne Harms betreut derzeit mit ihren Kollegen bei Fluchtpunkt in ihrem Büro an der Eifflerstraße viele Flüchtlinge aus Somalia. „So lange internationale Wirtschaftspolitik es erlaubt, dass dort das Meer leer gefischt und dafür unser Giftmüll dort gelassen wird, ist es wenig glaubwürdig, wenn beim G20-Gipfel über die Vermeidung von Fluchtursachen gesprochen wird“, sagt sie. Aber der größte Widerspruch sei es, wenn Regierungen Fluchtursachen bekämpfen wollen und gleichzeitig immer mehr Waffenexporte zulassen.

Was wäre ihre Botschaft an die G20-Chefs? Deutschland könne vorangehen und zeigen, dass es auch anders geht, etwa bei Umweltstandards. Oder bei arbeitsrechtlichen Mindeststandards. „Solange diese von den Firmen nicht lückenlos nachgewiesen werden, darf ein T-Shirt eben nicht mehr verkauft werden“, sagt Anne Harms.

Direkt gegenüber vom Sternschanzen-Bahnhof verkauft Peter Schmuck seit 22 Jahren Ringe und Ketten, Uhren und Anhänger aus Gold und Silber. Der Goldschmied kennt die Schanze noch, als schräg gegenüber von seinem Laden ganz offen mit Drogen gehandelt worden ist. Als die Schanze noch ein Schmuddelkind war. St. Paulis verstorbene Fußball-Legende Walter Frosch kam oft auf einen Kaffee vorbei und hat sich über die Bekloppten und Schlaumeier amüsiert, die zunehmend hierher zogen. Bis die Schanze schließlich als buntes Szeneviertel den Sprung in die Tourismus-Prospekte geschafft hat. „Das Quartier hat sich positiv entwickelt“, sagt Schmuck. Wer jetzt hierher ziehe, wisse, auf was er sich einlasse. Hohe Mieten, teure Geschäfte.

Das Gipfeltreffen aber passe trotzdem nicht hierher. „Das ist völlig unsinnig. In zwei Tagen kommen die Politiker eh nicht auf einen Nenner. Was soll dabei rauskommen?“ Das sei es auch, was viele Menschen im Viertel ärgere.

Wie andere auch, hat Peter Schmuck bereits am Donnerstag seinen Laden geschlossen. Und damit auf Einnahmen aus zwei Tagen verzichtet. „Warum treffen sich die Regierungschefs zum Verhandeln nicht irgendwo auf dem Lande?“, fragt er. Eine Stammkundin kommt herein und ergänzt: „Oder auf der AIDA, mit zwei Kriegsschiffen zum Schutz an jeder Seite, dann wäre das mit der Übernachtung auch nicht solch ein großer Aufwand.“

Zwei Türen weiter gibt es eine beinahe historische Premiere. „Am Freitag haben wir geschlossen“, sagt Yvonne Trübger. Es ist das erste Mal in der 145-jährigen Geschichte des gleichnamigen Pianohauses, das als letztes in dem ehemaligen Klavierbauerviertel übrig geblieben ist. Die Inhaberin und Geschäftsführerin, die das Familienunternehmen seit 20 Jahren und in vierter Generation leitet, hat für mehrere Tausend Euro draußen die großen Fensterfronten mit riesigen Holzwänden gesichert. „Immer schön Piano!“, steht in großen roten Buchstaben auf weißem Grund. Nicht nur Gipfel-Gegner können kreative Wortspiele.

Wobei auch die gelernte Klavierbauerin, die sich mit vielen Veranstaltungen in ihrem Geschäft auch um den musikalischen Nachwuchs im Viertel kümmert, wenig Verständnis für das Politik-Spektakel direkt vor ihrer Tür hat. „G20 mitten in Hamburg, das war eine extrem unkluge Entscheidung“, sagt sie. Ausbaden müssten das die Bürger. Und die Geschäftsleute.

Ob sie wenigstens das Geld für die fantasievolle Sicherung ihrer riesigen Schaufenster von der Stadt wiederbekäme? „Vielleicht kann man das ja auf die Gewerbesteuer anrechnen“, sagt sie und lacht. Über all die Jahre sei sie ja schon einiges an Krawall gewohnt. „Aber wir sind ein Familienunternehmen und lassen uns nicht vertreiben – auch nicht von G20.“

Mit Verdrängung kennt sich Sylvia Sonnemann bestens aus. Seit einem Vierteljahrhundert arbeitet die Juristin an der Bartelsstraße für „Mieter helfen Mietern“. Sie hat die Entwicklung der Schanze zum Latte-macchiato-Viertel hautnah verfolgt. Und heute? Das Viertel sei zwar sehr „aufgehübscht“, aber immer noch liebenswert. „Und äußerst lebendig.“ So lebendig, dass die Älteren, so ihre Beobachtung, langsam anfingen, wieder wegzuziehen.

Und auch zum Gipfeltreffen haben wohl viele ihr Viertel fluchtartig verlassen. „Schauen Sie mal“, sagt sie und zückt ihr Handy. „Dieses Foto habe ich gemacht. So sah es hier in der Bartelsstraße morgens um 10 Uhr noch nie aus.“ Zwei, drei Autos parken dort, ansonsten ist die Straße leer. Menschenleer. Fast wie vor 20 Jahren sei das, hat auch Holger Mütze gesagt. Er treffe jetzt morgens Menschen zum Gespräch mitten auf der Straße. „Man sieht sich plötzlich wieder und hat Zeit. Von mir aus kann jeden Tag G20 sein“, sagt er. „Zumindest die Vormittagsversion davon.“

Die Polizei hat das Viertel weiträumig abgesperrt. Sylvia Sonnemann findet die Sicherheitsdiskussion anstrengend, weil sie von der inhaltlichen ablenkt. Dass die mächtigsten Menschen der Welt direkt neben einem linken Szeneviertel zusammentreffen, hält sie für „unklug“. Vor allem deshalb, sagt sie, weil zahlreiche dieser hochrangigen Nationen-Vertreter für viele Menschen das Problem darstellten – und nicht die Lösung. Positiv findet sie, dass neben dem Gipfel in diesen Tagen sehr viele Debatten und Diskussionen über die wichtigen Themen der Welt geführt werden. Negativ seien die immensen Kosten des Treffens von mindestens 130 Millionen Euro. „Das tut richtig weh. Was könnte man mit dem Geld alles Gutes tun?“

Stattdessen flackern an allen Ecken und Enden des Viertels immer wieder kleinere Scharmützel und lautstarke Auseinandersetzungen zwischen Bürgern und Staatsmacht auf. Die bessere Welt ist weit und breit nicht in Sicht. Im Gegenteil, das permanente Katz-und-Maus-Spiel zwischen Gipfel-Gegnern und Gipfel-Schützern nimmt hier und da groteske Züge an.

Anzeige wegen Androhung von körperlicher Gewalt

An der Kreuzung Feldstraße/Glacischaussee versammeln sich am Nachmittag sechs junge Demonstranten und schauen sich die dichte Polizeikette auf der anderen Straßenseite an. Ein paar Meter daneben sitzen drei junge Leute im Gras und frühstücken. Zwei Uniformierte kommen herüber und verscheuchen die bunten Grüppchen. „Wo ist die Rechtsgrundlage dafür?“, will Christiane Yüksel, die zufällig vorbeigekommen ist, von einem Beamten wissen. „Bitte gehen Sie“, bekommt sie zur Antwort. „Ich darf hier stehen“, sagt die Fachanwältin für Strafrecht. „Ich verweise Sie jetzt des Platzes, und wenn Sie nicht gleich gehen, dann tut es weh“, sagt der Polizist. Die Rechtsanwältin verlangt seinen Namen. Als sie ihn nicht bekommt, notiert sie sich seine Nummer, die auf dem Rücken prangt. „Sie bekommen eine Anzeige wegen Androhung körperlicher Gewalt“, sagt sie zu dem Beamten, der aber bereits die nächsten Bürger vom Fußweg verscheucht.

Die Demokratie wird in diesen Tagen, die Hamburg zweifellos verändert haben, auf eine harte Probe gestellt. War es wirklich nötig, G20 hier stattfinden zu lassen? Ja, findet Holger Mütze. Weil man hier eben auch viele alternative Debatten führen könne. „Manche sagen, die sollen nächstes Mal auf Helgoland tagen“, sagt Holger Mütze. „Dann frage ich die immer: Wo soll man denn da demonstrieren?“