Nach den schweren Krawallen im Anschluss an die Demonstration „Welcome to Hell“ sowie im Laufe des Freitags wird über das Einsatzkonzept der Polizei diskutiert. Das Abendblatt hat die wichtigsten Fakten

Die Lage geriet außer Kontrolle, bevor der G20-Gipfel überhaupt begonnen hatte: Die schweren Zusammenstöße bei der Demonstration „Welcome to Hell“ am Donnerstagabend und die anschließenden Krawalle haben ein juristisches Nachspiel – und womöglich politische Konsequenzen.

Was ist am Donnerstagabend bei der Demo passiert?

Der Demonstrationszug mit rund 12.000 Teilnehmern kam gegen 19 Uhr nur wenige Hundert Meter weit, ehe die Polizei den Zug mit Wasserwerfern und behelmten Hundertschaften stoppte. Sie forderte die etwa 1000 Mitglieder des Schwarzen Blocks auf, ihre Vermummung abzulegen. Das geschah nur teilweise. Nachdem sich Beamte und Demonstranten etwa 45 Minuten lang gegenüberstanden, eskalierte die Situation. Demonstranten warfen auf der Hafenstraße und der angrenzenden Promenade mit Flaschen, Böllern und sogar Pflastersteinen und Fahrrädern nach den Beamten. Die Polizei setzte Schlagstöcke und Wasserwerfer ein.

Von wem ging die Eskalation aus?

Die Straßenschlacht entbrannte, als die Polizei in den Demonstrationszug vorpreschte und versuchte, den Schwarzen Block von dem hinteren, friedlich geprägten Teil der Demons­tranten abzutrennen. Das misslang, da ein Teil der gewaltbereiten Autonomen auf die Promenade kletterte und sich unter die große Anzahl von Anwohnern, Schaulustigen und Journalisten mischte. Gleichzeitig rückte die Polizei mit weiteren Beamten auf dem Gehweg vor. Unbeteiligte gerieten in Panik, einige Menschen wurden über die angrenzende Mauer gedrückt und stürzten.

Bevor die Polizei einschritt, hatte sich auch der Schwarze Block ungewöhnlich ruhig verhalten. Etwa 30 Minuten lang wurden nicht einmal Parolen skandiert. Die Polizei betont aber, dass bereits einzelne Flaschen und Steine in Richtung der Beamten geflogen seien. Trotz mehrfacher Aufforderung waren Autonome im hinteren Teil des Schwarzen Blocks weiterhin vermummt. Nach dem Einschreiten der behelmten Hundertschaften entzündeten die Autonomen sofort Rauchbomben, die sie offenbar griffbereit hatten.

Warum wurde die Demonstration angesichts der Gewaltankündigungen im Vorfeld nicht einfach verboten?

Trotz der enormen Zahl von erwarteten gewaltbereiten Linksextremisten entschied sich die Polizei gegen einen Versuch, den Aufmarsch zu verbieten. Zum einen hatte der Anmelder des Aufzugs, Andreas Blechschmidt, laut Polizei wiederholt versichert, dass die Kundgebung friedlich verlaufen werde und es zu keiner Vermummung käme. Zum anderen gibt es für ein Verbot hohe rechtliche Hürden: So müsste beispielsweise ein „polizeilicher Notstand“ ausgerufen und vor Gericht begründet werden. Die Lageeinschätzung der Sicherheitsbehörden, dass auch viele gewaltbereite Extremisten erwartet werden, reichte Gerichten in der Vergangenheit sehr häufig nicht für ein Verbot aus.

Warum ist die Vermummung eine Straftat?

Grundlage ist das Versammlungsgesetz. Das Vermummungsverbot wurde in Deutschland am 28. Juni 1985 mit den Stimmen der konservativ-liberalen Koalition im Bundestag beschlossen. Es untersagt Teilnehmern von Demonstrationen, ihr Gesicht zu verdecken oder Gegenstände mitzuführen, die dazu bestimmt sind, das Gesicht zu verdecken. Damit soll die Feststellung der Identität jederzeit möglich sein.

Was droht den Festgenommenen?

Das hängt am Ende von dem Vorwurf ab, der gegen sie erhoben wird. Ein Verstoß gegen das Vermummungsverbot beispielsweise kann mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit einer Geldstrafe bestraft werden. Eine Rolle könnte auch der Vorwurf des Widerstands gegen die Staatsgewalt sein, was gewaltsamen Widerstand oder tätliche Angriffe gegen Vollstreckungsbeamte des Staates umfasst. Sofern lediglich Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte vorgeworfen wird, droht eine Geldstrafe. Anders sieht es aus, wenn Körperverletzung und Verwendung gefährlicher Hilfsmittel hinzukommen.

Wie viele Verletzte gab es bislang?

Die Polizei sprach am Freitagabend von 196 verletzten Beamten – 74 Polizisten wurden demnach allein am Donnerstagabend verletzt. Aufseiten der Demons­tranten wurden am Freitagmorgen elf Menschen schwer verletzt, als sie über eine Mauer mit Absperrgitter in Bahrenfeld kletterten und abstürzten. Unmittelbar nach „Welcome to Hell“ hatten die Anmelder von „Dutzenden“ verletzten Demonstranten gesprochen, davon mindestens ein Schwerverletzter.

Wie viele Festnahmen gab es?

Laut Polizei gab es bis zum späten Freitagabend 83 vorläufige Festnahmen von Demons­tranten, von denen gegen acht Personen ein Haftbefehl erlassen wurde. Zudem gab es 19 Ingewahrsamnahmen. Trotz der schweren Krawalle am Donnerstag hatte es dort zunächst nur etwa 20 Festnahmen gegeben.

Warum wurden nicht mehr Straftäter festgenommen?

Aus Polizeikreisen heißt es, vor allem bei der Demonstration „Welcome to Hell“ habe die Beherrschung der Lage eindeutig Vorrang gehabt. Die Festnahme und der Abtransport von Straftätern bindet sehr viele Beamte, die anschließend für einige Zeit im unmittelbaren Geschehen fehlen. Zudem flüchteten viele Mitglieder des Schwarzen Blocks allein oder in Kleingruppen – viele trugen auch Wechselkleidung mit sich, um einer Festnahme zu entgehen.

Wie konnte es zu dem Ausbruch der Gewalt am Freitagmorgen kommen? Die Polizei wurde davon überrascht, dass die Täter am frühen Morgen zuschlugen – als sich ein Großteil der Beamten gerade zurückgezogen hatte, um sich von dem harten Einsatz des Vortages zu erholen. Bis die Beamten erneut alarmiert und vor Ort waren, konnten militante G20-Gegner große Zerstörungen anrichten. Am späten Vormittag war die Lage laut Innensenator Andy Grote (SPD) wieder stabil, er forderte zudem weitere Kräfte an.

Aus welchen Gruppen kommen die Randalierer vom Freitagmorgen?

Das lässt sich nicht genau bestimmen, mehrere Autonome könnten bereits Teil des Schwarzen Blocks am Donnerstag gewesen sein und bis zum frühen Morgen für weitere Krawalle abgewartet haben. Ob es sich überwiegend um Autonome aus Deutschland oder dem Ausland handelte, konnte eine Polizeisprecherin am Abend noch nicht sagen.

War das Polizei-Vorgehen rechtmäßig?

Laut Juristen ist das nur sehr schwer festzustellen, obwohl es viele Videoaufnahmen gibt. „Am Ende geht es um die Frage, ob die Anzahl und Qualität der Straftaten im Demonstrationszug – hier vor allem die Vermummung – ausreichen, um die Abspaltung des Schwarzen Blocks durch die Polizei und die daraus entstehenden Konsequenzen für den Rest der Versammlung zu rechtfertigen“, sagt Christian Ernst von der Bucerius Law School. Während Staatsrechtler Prof. Jochen Rozek von der Universität Leipzig davon ausgeht, dass das Verhalten der Polizei rechtmäßig war, verweist Ulrich Karpen von der Uni Hamburg darauf, dass es keine deutliche Aggression des Schwarzen Blocks vor dem Eingreifen der Polizei gegeben habe. „Eine der Aufgaben der Polizei bei Demonstrationen ist nach feststehender Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das Bemühen um eine Deeskalation. Sie darf eine Situation nicht zusätzlich anheizen“, sagt Karpen.

Ändert die Polizei jetzt ihre Strategie?

Die Einsätze in dieser Woche würden laufend von Polizei und Innenbehörde reflektiert, sagt Innensenator Andy Grote (SPD). Dass die Polizei ihre als „Hamburger Linie“ bekannte Null-Toleranz-Strategie ändert, ist unwahrscheinlich.


Was sagen die Parteien?

Alle Parteien haben die Ausschreitungen verurteilt. SPD-Fraktionschef An­dreas Dressel bezeichnete das „Ausmaß an Zerstörungswut“ als erschreckend. „Wer unsere Polizistinnen und Polizisten tätlich angreift, Autos anzündet und Schaufenster einschlägt, der ist kein Demonstrant, sondern einzig und allein ein Straftäter.“ Dressel appellierte an die Teilnehmer künftiger Demos: „Distanzieren Sie sich von Gewalt. Zeigen Sie, dass Hamburg eine weltoffene, tolerante und friedliche Stadt ist.“

Der Vorsitzende der CDU-Fraktion, André Trepoll, erklärte: „Wer in Hamburg Steine schmeißt, Autos anzündet und Menschenleben gefährdet, de­monstriert nicht für den Weltfrieden.“ Es sei bitter, „dass die markige Sicherheitsgarantie des Bürgermeisters offensichtlich nichts wert war und die Lageeinschätzung des rot-grünen Senats ­bereits am ersten Tag des Gipfels widerlegt wird“. Es müsse eine politische Aufarbeitung geben. Er hat ebenso wie sein Fraktionskollege Dennis Gladiator und CDU-Landeschef Roland Heintze den Besuch des Konzerts in der Elbphilharmonie am Freitagabend angesichts der Krawalle abgesagt.

Der Grünen-Fraktionsvorsitzende Anjes Tjarks und die Grünen-Landesvorsitzende Anna Gallina forderten ein sofortiges Ende der Gewalt. „Die Polizei stand vor einer kaum zu lösenden Situation, und der Abend hat gezeigt, welche enormen Schwierigkeiten der Gipfelstandort mitten in der Stadt mit sich bringt. Wir Grüne haben die Messehallen von vornherein als ungeeignet kritisiert.“ Auch die Grünen halten es für folgerichtig, „dass der Einsatz detailliert aufgearbeitet werden muss. Dazu muss auch die Frage der Verhältnismäßigkeit des Einsatzes gehören.“

Die Vorsitzenden der Linke-Fraktion, Sabine Boeddinghaus und Cansu Özdemir, erklärten: „Die Eskalation der Demonstration in der Hafenstraße ging ohne jeden Zweifel von der Polizei aus.“ Das Einsatzkonzept des Senats und der Polizei sei auf massive Eskalation angelegt gewesen. „Die politische Verantwortung für dieses eskalative Konzept tragen der Innensenator und letztlich auch der Erste Bürgermeister.“

Die AfD-Fraktion sprach von linksextremen „Banden“, die Hamburg terrorisierten. „Angesichts dieser dramatischen Entwicklungen halte ich es für unangemessen, wenn die Politprominenz in der Elbphilharmonie klassischen Tönen lauschen soll und draußen Hamburg brennt“, sagte AfD-Innen­experte Dirk Nockemann.

Welche Demos kommen noch?

Die beiden wichtigsten inhaltlichen Demonstrationen sind für diesen Sonnabend geplant: Unter dem Titel „Grenzenlose Solidarität statt G20“ hat sie das „Bündnis gegen den G20-Gipfel“ angemeldet. Dahinter steckt die Partei Die Linke. Auch autonome Gruppen gehören dazu. Bis zu 30.000 Menschen werden erwartet. Start ist um 13 Uhr am Deichtorplatz. Ebenfalls für Sonnabend geplant ist die Demo „Hamburg zeigt Haltung“. Bei diesem Bündnis geht es gewaltfrei zu. Außerdem lehnen die Teilnehmer G20 nicht grundsätzlich ab. Etwa 10.000 werden erwartet.