Vermummte Banden stecken Autos in Brand, plündern Läden. 2000 neue Beamte werden geholt, um die Gewalt zu bekämpfen. Was passiert noch alles am heutigen Sonnabend?

Eine enthemmte Orgie der Gewalt hat den ersten Gipfeltag in Hamburg überschattet. Teilweise geriet die Situation völlig außer Kontrolle, die stationierten 19.000 Beamte waren nicht mehr in der Lage, die Bürger in allen Teilen der Stadt zu schützen – die Bilder erinnerten mitunter an bürgerkriegsähnliche Zustände. Polizeipräsident Ralf Martin Meyer beklagte eine „völlig irre Gewalt“ links­extremer Gruppen. Angesichts brennender Autos und Anschlagsserien auf Häuser und Geschäfte forderte die Polizei am Mittag 2000 zusätzliche Beamte aus anderen Bundesländern an; die Zahl der für den Gipfel zusammengezogenen Polizisten steigt damit auf 21.000.

Schon jetzt ist klar: Dieser 7. Juli 2017 bedeutet für Hamburg eine Zäsur, eine neue Dimension der Gewalt. In der Vergangenheit gab es zwar auch Exzesse um die besetzte Hafenstraße oder um die Rote Flora. Doch noch nie griffen Gewalttäter die Stadt gleichzeitig an so vielen unterschiedlichen Orten an. Mit einer Rücksichtslosigkeit, die die Verletzung von Zivilisten in Kauf nahm.

Den ganzen Tag über lieferten sich Linksextremisten Jagdszenen mit der Polizei, die Wasserwerfer und Räumpanzer einsetzte. Vielerorts eskalierte die Gewalt. Nach Polizeiangaben wurden mehr als 196 Beamte verletzt. Einige von ihnen trugen Fleischwunden davon, als sie mit Stahlkugeln aus Schleudern beschossen wurden. Am Freitag gegen 22.30 Uhr twitterte die Polizei: „Es werden offenbar schwere Straftaten gegen Einsatzkräfte vorbereitet. Die Situation ist sehr ernst.“

Auch aufseiten der Demonstranten gab es viele Schwerverletzte, einer soll in kritischem Zustand sein. Bis in die Nacht zum Sonnabend lieferten sich gewaltbereite Demonstranten Straßenschlachten mit der Polizei im Schanzenviertel. Flaschen, Steine und weitere Gegenstände flogen. Die Polizei setzte Wasserwerfer und Tränengas ein. Gleichzeitig startete die „Revolutionäre Anti-G20-Demo“ mit rund 1500 Teilnehmern. Die Demons­tranten zogen von der Reeperbahn durch St. Pauli und Teile von Altona und brüllten: „Ganz Hamburg hasst die Polizei.“ Die Demo stand unter dem Motto „G20 entern – Kapitalismus versenken“. Im Aufruf des Veranstalters hieß es: „Wir werden unsere Wut auf dieses System tragen.“ Angesichts der Eskalation bat die Polizei Schaulustige via Twitter, sich zu entfernen: „Sie erschweren unsere Arbeit.“ Unterdessen brachen Chaoten eine Budni-Filiale am Schulterblatt auf, plünderten das Geschäft, ohne dass die Polizei einschritt – sie hatte sich zurückgezogen, ohne einzugreifen.

Um 23.30 Uhr kündigte Innensenator Andy Grote (SPD) dann auf Twitter an, die Polizei werde am Schulterblatt „jetzt konsequent vorgehen“. Grote: „Hohe Gefahr für die Einsatzkräfte, massiv bewaffnete Gewalttäter, zum Teil auf den Dächern.“ Gleichzeitig rückten Wasserwerfer vor, was darauf hindeutete, dass das Schulterblatt nun doch noch gestürmt werden sollte. Der Einsatz dauerte bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe um Mitternacht noch an.

Schon am frühen Morgen waren marodierende vermummte Banden durch Altona gezogen. Auf der Elbchaussee zündeten sie mindestens 20 Autos an, warfen auch in das Ikea-Kaufhaus an der Großen Bergstraße einen Brandsatz. Videos zeigen, dass kein Polizist in der Nähe war, offenbar hatte die Einsatzleitung nicht mit so frühen Attacken gerechnet. Es war Schichtwechsel, Beamte erholten sich von ihrem Einsatz am Donnerstag.

Im Minutentakt kam es zu weiteren Gewaltexzessen. An der Holstenstraße wurden Molotowcocktails auf Polizeibeamte geschleudert, am Springer-Hochhaus setzte die Polizei Wasserwerfer ein. Viele G20-Gegner versuchten, die Protokollstrecken zu blockieren, um den Beginn des Gipfels hinauszuzögern.

Auf den Dächern im Umfeld der Elbphilharmonie postierten sich Scharfschützen, um die G20-Gäste des Konzerts am frühen Abend zu schützen. Im Umfeld wurden Beamte eingekesselt, mit Böllern beworfen. Die Feuerwehr rief einen „Massenanfall an Verletzten“ aus. Dennoch gelang es, die Elbphilharmonie zu schützen – auch vor Greenpeace, die mit Schlauchbooten und Schwimmern ins Sperrgebiet eindringen wollte. Dabei kollidierte ein Greenpeace-Boot mit einem Polizeiboot. Während des Konzerts in der Elbphilharmonie entbrannte in der Schanze dann die neue Auseinandersetzung.

Mit den Krawallen setzte sich am Freitag fort, was am Donnerstagabend begonnen hatte. Wie das Abendblatt bereits berichtete, war die Demo „Wel­come to Hell“ am Fischmarkt eskaliert, als Autonome trotz mehrmaliger Mahnung ihre Vermummungen nicht ablegten. Die Polizei versuchte, die beiden Schwarzen Blöcke mit jeweils rund 1000 Teilnehmern abzutrennen, um Demonstranten den Gang über die geplante Route möglich zu machen. Bei den Krawallen wurden Polizisten mit Steinen, Flaschen und Stangen attackiert. Auch bei der für den Sonnabend angekündigten Demonstration „G20 – not welcome“, angemeldet vom Linken-Politiker Jan van Aken, fürchtet die Polizei Ausschreitungen. Die Demo startet um 11 Uhr am Hauptbahnhof, die Kundgebung findet am Millerntorplatz statt.

Dieser Gipfel wird ein intensives Nachspiel haben

Gemäßigte Kräfte haben fast gleichzeitig zur Demo „Hamburg zeigt Haltung“ aufgerufen, sie beginnt um 11.30 Uhr am Dovenfleet. Hier wird es wohl ebenso wenig Randale geben wie am Freitag bei der Demonstration „Bildungsstreik“ von Schülern und Studenten.

Aber schon jetzt ist klar, dass dieser Gipfel ein intensives Nachspiel haben wird. Im Mittelpunkt wird dabei die Frage stehen, warum die Polizei trotz eines Großaufgebots die Situation zeitweise nicht mehr im Griff zu haben schien. Dabei hatte Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) der Stadt einen sicheren Gipfel versprochen, das Großereignis gar mit dem Hafengeburtstag verglichen. Das könnte den Bürgermeister nun einholen. Am Freitag sprach er von „hochaggressiven, gewalttätigen Straftätern“. Ausdrücklich dankte er den Polizisten, ihr Einsatz sei „heldenhaft“.

Innensenator Andy Grote (SPD) musste sich unangenehmen Fragen stellen (Text unten). Polizeipräsident Meyer beteuerte, die Polizei sei nicht überfordert. Das Problem sei die schiere Zahl der Vorfälle: „Wir haben immer gesagt, wenn es in der Peripherie zu Sachbeschädigungen kommt, dann muss man das auch teilweise hinnehmen, um den Zweck zu erreichen, nämlich den Gipfel zu schützen.“ Dies kann man durchaus als Kritik an der Genehmigung der Protestcamps etwa in Altona werten. Unter den Beamten gibt es nach Abendblatt-Informationen auch großen Unmut über das Verkehrskonzept des Senats, es sei komplett gescheitert.