Niels Sahling hat einen harten Job: 22 Stunden Dienst am Stück, nur 90 Minuten Schlaf. Doch der Polizist mag seine Arbeit trotzdem

Dass es turbulent werden würde, war ihm vorher klar, doch dieses Ausmaß an Gewalt und Lust an Zerstörung übertrifft die Befürchtungen bei Weitem. Als Niels Sahling um 3.30 Uhr in der Nacht von Donnerstag auf Freitag sein Feldbett aufschlägt, liegen mehr als 16 Stunden Einsatz hinter ihm und seinen Kollegen der 1. Hundertschaft der Bereitschaftspolizei. Es ging hart zur Sache: Böller, Flaschenwürfe, fliegende Holzteile und Beschimpfungen waren noch die harmloseren Begleitumstände einer Nacht, die Hamburg veränderte.

Doch kann von Nachtruhe keine Rede sein. Denn 90 Minuten später, um 5 Uhr, hallt ein Weckruf durch das Quartier auf dem Gelände des Polizeipräsidiums in Winterhude. Sahling und gut 120 Kollegen, darunter etwa ein Drittel Frauen, legen hastig ihre Einsatzkleidung an. Im Laufschritt geht es zu den Großraumfahrzeugen unten auf dem Hof, auch „Wannen“ genannt. Ausrücken! Das Protokoll eines Einsatztages am Beispiel des Polizeimeisters Niels Sahling dokumentiert das Ausmaß des Einsatzes, der an die Grenzen der persönlichen Belastbarkeit geht – wie bei fast allen Beamten, die in diesen Gipfeltagen aktiv sind. „Das Privatleben haben wir schon vor einer Woche am Kleiderhaken abgelegt“, berichtet eine junge Polizistin mit zwei blauen Sternen auf den Schulterklappen. Ganz nüchtern sagt sie das.

Dabei beginnt der Arbeitstag für Niels Sahling routiniert und entspannt – den Umständen entsprechend. Sein Vater steht ebenfalls im Dienst der Polizei; die Mutter ist Krankenschwester. Man kennt die Tücken des Berufs also. Sahling trat nach dem Abitur an der Gesamtschule Harburg seine zweieinhalbjährige Ausbildung bei der Polizei an, am Kommissariat 41 in Hamm. Seitdem gehört er der 1. Hundertschaft an. Anfang August wird er in eine Wache nach Lokstedt wechseln.

Nach einem Einsatz bei der Räumung eines Protestcamps am vergangenen Sonntag, der bis 2.30 Uhr dauerte, genoss der 27-Jährige am Montag dieser Woche einen freien Tag. Letzte Ruhe vor dem Sturm. Von Alltag könne schon seit Wochen keine Rede sein, sagt er. Danach ging’s los. Dienstag Präsenz bei erster Randale am Pferdemarkt, Mittwoch Nachtarbeit auf St. Pauli und in der Schanze. Um 1.30 Uhr ist Feierabend. Mit dem Rad fährt Sahling nach Hause. Um 2.30 Uhr liegt er im Bett. Sieben Stunden Schlaf.

Donnerstag, 11.00 Uhr. Der junge Polizeimeister trifft auf dem Präsidiumsgelände ein. Auf dem Fahrrad unterwegs hat er ein Stück Brot gegessen. Im Job wird die Ausrüstung präpariert. Im Halfter steckt eine Pistole. In kleinen Taschen daneben am Gürtel sind Handschellen sowie Kabelbinder untergebracht.

Weitere Utensilien: Brandschutzhaube, Beatmungstuch, Pfefferspray, Taschenlampe, Schlagstock. Dazu gehören eine Art Sicherheitsweste („Tur­tle“), Schutzstiefel und eine nicht brennbare Jacke aus Aramid. Auf Sahlings Helm unten im Dienstfahrzeug ist eine weiße „11“ zu sehen, als Zeichen der Hundertschaft. Dort befindet sich ebenfalls eine Atemschutzmaske. Die Hundertschaft gliedert sich in vier Züge und mehrere Gruppen.

Donnerstag, 12.10 Uhr. Im Aufenthaltsraum sitzt der Zugführer – ganz allein mit sich und seinen Gedanken. Trotz seiner entgegenkommenden Art ist zu spüren: Er möchte seine Ruhe haben. Kann man verstehen.

Die Autos werden beladen. Jeder Griff sitzt. Viel Routine. Profis sind am Werke. „Angst habe ich nicht“, sagt Sahling, „Respekt durchaus.“ Ein mulmiges Gefühl verspüre er ebenfalls nicht: „Ich wehre mich auch gegen solche Gedanken.“ Trotz der Belastung mag er seinen Beruf. Der Mann ist Idealist.

Oft war er mit seinen Kollegen vor Ort, wenn es brannte. So und so. 2015 beim G7-Gipfel auf Schloss Elmau in Bayern, bei einem Hooligantreffen in Köln, bei der AfD in Dortmund, bei Obamas Besuch in Hannover. Nicht selten flogen die Fetzen.

Umso wichtiger, dass die Menschlichkeit nicht auf der Strecke bleibt: Im Einsatzwagen befinden sich aufgeblasene Luftballons und Girlanden mit der Zahl 40. Der Gruppenführer hat Geburtstag. Ausgerechnet heute.

Donnerstag, 12.30 Uhr. Kurze Verschnaufpause. Ein Kollege hat Sahling in einer Plastikschüssel Gulasch mit Nudeln mitgebracht. Im Aufenthaltsraum steht ein Tischkicker. Daneben lagern Kästen mit Halbliterflaschen Mineralwasser. In weißen Tüten befindet sich die Ration für den Rest des Tages: zwei Sorten Schwarzbrot in Dosen, Jagdwurst, Biopastete, Käse, Brezeln und Butter. Und ein bisschen Naschkram.

Herr Sahling, Hand aufs Herz, was geht in Ihnen vor, wenn Vermummte vor ihnen stehen? „Viele sind ja gleichaltrig“, entgegnet er. „Sie vergessen, dass in unserer Uniform ein Mensch steckt, einer mit Privatleben und Familie.“ Sein oberstes Prinzip sei Deeskalation: „Ich versuche zu beruhigen und einen Hauch von Vernunft zu wecken.“ In vielen Fällen sei das hoffnungslos. „Traurig, aber die haben ein komplett anderes Weltbild“, sagt er.

Dennoch sei ihm klar, dass nur ein Promilleteil der Demonstranten Gewalttäter sind. Umso mehr erfreut ihn Anerkennung. „Gestern Nacht auf der Schanze gab es von vielen Passanten Dank für unseren Einsatz“, erzählt Sahling. Einer, von dem er es äußerlich nicht vermutet hätte, verwies auf einen Stapel Backsteine, in einem Hinterhof von Autonomen gelagert. Seine Sicht: „Ein Großteil der Bevölkerung ist froh, dass wir da sind. Jedoch ist dieser Großteil viel leiser als die kleine, radikale Minderheit.“

Niels Sahling ist ein politisch denkender Mensch. Als Vorsitzender der Landesjugend der Gewerkschaft der Polizei (GdP) engagiert er sich seit Jahren für die Interessen der Kollegen.

Es ist Donnerstag, 13.05 Uhr. Die geplante Einsatzbesprechung fällt aus. Eher als vorgesehen rückt die 1. Hundertschaft ab zum Flughafen. Auftrag: Schutz ankommender Gipfelgäste.

Donnerstag, 17.11 Uhr. Vom Flughafen zurückbeordert, treffen Sahling und Kollegen in Altona ein. Die Einheit bezieht am Fischmarkt/Ecke Große Elbstraße Position.

Donnerstag, 18.17 Uhr. Die Hundertschaft wird erneut verlagert, um 18.54 noch einmal. Sahling und Kollegen stehen neben ihrem Fahrzeug. „Ganz Hamburg hasst die Polizei“, skandiert eine Gruppe am Straßenrand. Es fliegen Böller. „Bullenschweine!“, schreit eine junge Frau. Dann heißt es: „Helm aufsetzen.“ Die Hundertschaft rückt weiter vor. Silvesterraketen, Flaschen, Steine.

Donnerstag, 20.43 Uhr. Die Begleitung der Demonstration führt über Reeperbahn und Altonaer Straße ins Schanzenviertel. Barrikaden brennen. Abermals fliegen Holzstangen und Steine.

Freitag, 2.02 Uhr. Sahlings Einheit wird abgezogen und trifft kurz vor 3 Uhr am Polizeipräsidium ein. Leider nicht komplett: Eine Kollegin musste nach einem Steinwurf in die Kniekehle ins Krankenhaus. Ein Kollege muss mit einer Augenverletzung behandelt werden. An einer Wand im Quartier der 1. Hundertschaft hängt eine Telefonnummer: „Notseelsorge, Tag und Nacht.“

Freitag, 3.30 Uhr. Die Beamten holen Gestelle aus blauen Säcken und bauen im Aufenthaltsraum Feldbetten auf. Kissen und Decken werden ausgegeben.

Freitag, 5.00 Uhr. Wecken. Kleidung sortieren. Schnelles Frühstück. Nach 90 Minuten „Nachtruhe“ um 6 Uhr erneutes Ausrücken: zur Köhlbrandbrücke und Alsterschwimmhalle.

Freitag, 11.35 Uhr. Die 1. Hundertschaft rast zum Mundsburger Damm. „Der tote Punkt ist überwunden“, sagt Niels Sahling. Von den vergangenen 24 Stunden war er mehr als 22 im Einsatz. Und wann ist endlich Feierabend? „Nicht in Sicht“, antwortet er. Und ganz zum Schluss sagt er noch: „Der Job unserer Kollegen im Streifenwagen ist gefährlicher, unberechenbarer.“ Warum? „Weil wir wissen, was uns erwartet.“