Hamburg. Beethovens Neunte hat viele Bedeutungen – musikalisch, politisch und moralisch

Sie wird sich etwas dabei gedacht haben, als sie das Opus 125 eines in Bonn geborenen Komponisten auf das Programm des Hamburger Gipfelkonzerts setzen ließ. Angela Merkel – bekanntlich bekennende Wagnerianerin – kennt sich gut genug mit den Zwischen­tönen der klassischen Musik aus, um die vielen Deutungs- und Bedeutungsebenen von Beethovens Neunter zu erfassen und in ihr Kalkül einzubeziehen. Jenem Stück, das am Freitag auf persönlichen Wunsch der Bundeskanzlerin im Großen Saal der Elbphilharmonie von den Philharmonikern unter der – ebenfalls ­gewünschten – Leitung von Generalmusikdirektor Kent Nagano gespielt wurde.

Wohl keine andere Komposition der Klassik ist weltweit so bekannt, so beliebt wie diese Sinfonie, in deren Finale das gesungene Wort die universale Sprache der Musik erweitert. Andererseits: Keine andere ist in ihrer Aussage so unterschiedlich interpretier- und nutzbar. Der Text des Schlusschors, der auf Schillers idealisierender Utopie aus seiner „Ode an die Freude“ basiert, spricht vom Wunsch nach einer besseren Welt, er träumt euphorisch und reformfordernd über die Notwendigkeit von Menschlichkeit, über trennende Grenzen hinweg. „Alle Menschen werden Brüder“, „dieser Kuss der ganzen Welt“. In diesen rund 70 Minuten geht es ums Ganze, für alle, niemand ist ausgenommen von der Pflicht zum Streben nach Glück und ­Gerechtigkeit für alle. „O Freunde, nicht diese Töne!“ Ein Polit-Amateur, der ­dabei nicht sofort auch an die umstrittenen G20-Teilnehmer Trump, Putin, Erdogan denken würde.

Mit Beethovens Neunter wurde Propaganda gemacht, undemokratische Systeme, linke wie rechte, missbrauchten sie als pompösen Soundtrack ihrer Selbst­legitimation. Sie ist mit ihrem Chor-Einsatz ein politisches, schillerndes ­Manifest, wie es zuvor noch keines gab. Beethoven widmete seine letzte voll­endete Sinfonie 1824 dem preußischen König. Das Stück spaltete sein Publikum schon früh in Bewunderer und Gegner. Wagner nannte sie „das menschliche Evangelium der Kunst der Zukunft“, ­Gerhart Hauptmann eine „göttlich ­tönende Kuppel über dem Tempel der Menschheit“. Andererseits war sie für den Komponisten Claude Debussy nur Spott-Zielscheibe, „ein Popanz zur öffentlichen Verehrung“. Stalin wiederum fand, sie sei „die richtige Musik für die Massen“. Als die Mauer fiel, ließ Leonard Bernstein bei einer Aufführung in Berlin das Schlüsselwort „Freude“ durch „Freiheit“ ersetzen.

Seit fast einem halben Jahrhundert ist ihr Schlussteil die Europahymne und auch in dieser Hinsicht ein unüberhörbares Statement. 2001 wurde das Stück ins Unesco-Weltdokumentenerbe aufgenommen. Ein Platz für die Ewigkeit, der ihm gebührt. Denn Beethoven lässt in seiner Neunten nicht weniger als das hohe Lied globaler Brüderlichkeit singen.