450 Hamburger Schüler haben sich vier Monate lang auf das G20-Treffen vorbereitet. Mit ihren ausländischen Partnerschulen haben sie Positionen erarbeitet, um die Welt besser zu machen. Das Abendblatt hat sie begleitet

Wenn man die Schüler dieser Welt nach ihren Vorstellungen befragen würde, wäre die Meinung sicher viel einhelliger als bei den Politikern“, sagt Tara. Die 17-jährige Hamburgerin vom Gymnasium Allermöhe ist eine von 450 Schülern, die sich intensiv auf den G20-Gipfel in der Hansestadt vorbereitet haben. Und an diesem Donnerstag und Freitag in die Rolle der Verhandlungsführer der G20-Nationen schlüpfen, um ein eigenes „Communiqué“ zu erstellen, das den Politikern übergeben werden soll.

„Schools4Tomorrow“ nennt sich das Schulprojekt, das von der HSV-Stiftung „Der Hamburger Weg“ initiiert worden ist (siehe Info). 20 Hamburger Schulklassen verhandeln ihren eigenen G20-Gipfel. Jede Klasse übernimmt eine Patenschaft für ein Teilnehmerland, um durch den Austausch mit den gleichaltrigen Jugendlichen deren Blickwinkel und Positionen einzunehmen.

Tara und ihre Mitschüler aus Allermöhe haben die Türkei als Partnerland bekommen. Die Ted Ankara Koleji, eine Privatschule in der Hauptstadt, ist ihre Partnerschule. „Die Kommunikation war nicht so einfach“, sagen sie. Es ging um drei Themensäulen: Stabilität sichern, Zukunftsfähigkeit verbessen und Verantwortung übernehmen. Am Ende sollten für jede Säule drei Forderungen formuliert werden, die heute und morgen im Volksparkstadion verhandelt werden.

Die Positionen der türkischen Jugendlichen waren den Hamburger Schülern oft zu vage formuliert. „Wir haben dann oft nachgefragt: Was meint ihr genau? Was wollt ihr wirklich?“, sagt Jesko (17). Was sind die zentralen Herausforderungen mit Blick auf 2030? Wie kann die Welt besser werden?

Bei der Stabilitätssicherung setzten die Schüler aus Allermöhe und Ankara schließlich die finanzielle Unterstützung von kleinen und mittelgroßen Unternehmen an Position eins. „So entstehen Ar­beitsplätze vor allem für junge Menschen mit niedrigem oder gar keinem Schulabschluss“, sagen Ugur und Jesko. Weitere Forderungen: weltweite Standards für fairen und freien Welthandel. Effektive Mechanismen gegen Diskriminierung, um generelle Gleichberechtigung für Mann und Frau zu schaffen. Umfassende Datenbanken für den Kampf gegen den Terrorismus. Die Überarbeitung der Ziele der Klima- und Energiepolitik, sodass sie für jedes Land realisierbar sind. Mehr Geld für Flüchtlinge sowie ein globaler Informationsaustausch im Kampf gegen Korruption und Geldwäsche.

War es schwer, die Perspektive eines anderen Landes einzunehmen? „Nein“, sagt Merle, „das war ja von Anfang an die Vorgabe.“ Die Schüler aus Allermöhe fanden das Projekt wichtig, weil sie so hautnah mitbekommen haben, wie komplex die Wirklichkeit ist. „Jetzt kann man nachvollziehen, warum manche Prozesse so lange dauern“, sagt Merle. „Oder warum sich Menschen nicht einigen, wenn die Positionen zu konträr sind.“ Außerdem werde durch solche Projekte das Interesse der Schüler an Politik geweckt. „Sich einzumischen kann auch Spaß machen“, sagt Ugur.

„Die Schüler haben drei sehr intensive Arbeitsphasen auf hohem Niveau durchlaufen“, sagt ihr Lehrer Stefan Labonté. Sie haben gelernt, wie Verhandlungen ablaufen. „Man muss zuhören und andere überzeugen. Es geht darum, Kompromisse zu finden. Und Verbündete, um am Ende die eigenen Positionen durchzusetzen.“ Und es gehe schließlich um die richtigen Formulierungen.

Ihre eigenen Forderungen an die Gipfel-Politiker sind eindeutig. „Als Erstes müsste die Weltgemeinschaft den Krieg in Syrien beenden“, sagt Axel. Danach kommen: Schutz der Rechte von Minderheiten, Bekämpfung der Hungersnöte in Afrika. „Und eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge in Europa“, sagt Tara. Was halten sie vom G20-Treffen in ihrer Stadt? Tara und Merle haben Bedenken, weil der Gipfel mitten in Hamburg stattfindet. „Das kann leicht eskalieren.“ Sie sagen aber auch, dass es gut sei, wenn die Mächtigen der Welt wenigstens miteinander reden. „Aber wir glauben nicht, dass sich durch das Treffen die Welt verändern wird. Dazu ist alles, was in Hamburg zwei Tage lang verhandelt wird, viel zu unverbindlich.“

Ugur findet den Gipfel trotzdem wichtig, weil die Teilnehmer einen großen Teil der Menschheit abdecken. „Und auch der Austausch mit Nichtregierungsorganisationen ist gut.“ Außerdem sei der Gipfel auch eine Chance für die Stadt. „Die Scheinwerfer sind auf Hamburg gerichtet, die Stadt gelangt auf die Weltkarte. Das kann für die Entwicklung und den Tourismus nur gut sein.“

Es dürfte wenige junge Menschen in Hamburg geben, die derzeit besser über Saudi-Arabien Bescheid wissen als die Schüler von Politiklehrerin Martina Beckert. Die Klasse der Lessing-Stadtteilschule in Harburg bekam Saudi-Arabien als Partnerland – und hatte erst einmal eine Unmenge von Fragen: Dürfen Saudis ihre Meinung äußern? Warum sind Frauen in dem Land nicht gleichberechtigt? Ist dort das Internet zugelassen? Denkt man in Saudi-Arabien über erneuerbare Energien nach?

„Saudi-Arabien ist das konservativste Land der Welt, und das basiert noch auf der von Männern beherrschten früheren Stammeskultur“, sagt Sophie. Das sogenannte Vormundsystem lässt es nicht zu, dass Frauen ohne Unterschrift des Mannes Verträge abschließen, heiraten oder arbeiten können. Seit Jahren fordern Menschenrechtler, dass die Frauen in Saudi-Arabien endlich ohne Zustimmung eines Mannes ins Ausland reisen, eine Wohnung mieten oder Behörden aufsuchen können. „Erst langsam wird dieses System in einigen Bereichen gelockert“, sagt Amrita.

Der Perspektivwechsel, um die Position des Partnerlands einzunehmen, war für die Harburger Schüler sicherlich am größten von allen Projektteilnehmern. Für Sophie hatte das aber etwas Positives: „Je stärker der Sichtwechsel, desto mehr erweitert sich doch der eigene Horizont.“ Als einzige der 20 Schulen haben sie trotz großer Bemühungen der Organisatoren keine Partnerschule in dem arabischen Königreich gefunden. „Das war schade“, sagt Sophie, „aber wir haben trotzdem sehr viel über das Land gelernt.“

Sie haben den Film „Wadjda“ über das Mädchen, das gerne Fahrrad fahren möchte, gesehen. Haben Bücher über das Land gelesen und das Reformprogramm Saudi-Arabiens „Vision 2030“ von Kronprinz Mohammed bin Salman studiert. Dort ist der Ausbau alternativer Energien genauso festgeschrieben wie der Ausbau der Rüstungsindustrie. Die Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt soll von 22 auf 30 Prozent erhöht werden, nachhaltige Landwirtschaft gefördert und das Bildungswesen verbessert werden. Frauen sollen Autofahren dürfen, die Bürokratie soll abgebaut werden.

Bei einem Besuch von Schirin Fathi, Nahost-Expertin von der Uni Hamburg, erfuhren sie sehr viel über die Entstehung des Landes, in dem heute rund 32 Millionen Menschen wohnen und die Todesstrafe gilt. „Sie hat uns darauf hingewiesen, dass es trotz aller kritischen Erkenntnisse wichtig sei, die Position der Saudis einzunehmen“, sagt Michelle.

Schließlich haben sie auch noch einen Brief an den saudi-arabischen Botschafter in Berlin geschrieben mit der Bitte um Hilfe, um vielleicht doch noch mit Jugendlichen aus dem arabischen Land ins Gespräch kommen zu können. Eine Antwort blieb aus – aber Ziele für Saudi-Arabien haben sie dennoch formuliert. Investitionen in Fotovoltaik­anlagen, Partnerschaft mit Afrika und mehr Frauen im Arbeitsmarkt. „Da das Öl begrenzt ist, müssen sich auch die Saudis Gedanken um eine neue wirtschaftliche Ausrichtung machen“, sagt Sophie. Deshalb müssten sie den Dienstleistungssektor stärken. „Und dafür brauchen sie mehr Frauen.“

Mehr Elektroautos, keine neuen Atomkraftwerke

Was erwarten sie selbst vom Gipfel in Hamburg? „Nicht viel“, sagt Amrita. Sophie wünscht sich, dass die Politiker beim Treffen in Hamburg die Bekämpfung der Armut und die Entwicklungspolitik an erste Stelle setzen. „Und dass dafür die wirtschaftlichen Interessen der einzelnen G20-Staaten in den Hintergrund treten.“ Dass es nicht immer nur um Geld und Macht geht. „Und dass die Politiker vor den drängendsten Problemen der Menschheit, dem Hunger und der Erderwärmung, nicht wieder die Augen verschließen.“

Martina Beckert ist stolz auf ihre Schüler, weil sie das Projekt mit viel Engagement bestritten haben. „Offen bleiben, zu differenzieren lernen, andere Perspektiven einnehmen, eigene Positionen überdenken, zuhören und Kompromisse finden – das ist ein mühsamer Prozess, aber die Schüler haben das toll gemacht und ganz viel mitgenommen.“

Die Schüler von Lennart Marx vom Gymnasium Buckhorn mussten ebenfalls ohne ausländische Partnerschule auskommen – sie schlüpften nämlich in die Rolle des Gastgebers. „Wir haben die Chance, Deutschland als aufgeschlossenes Land mit einer starken Wirtschaft zu präsentieren“, sagt Dominik (17). Ein Gastgeber, der „den Willen zur Verhandlung“ zeigt und „den globalen Blick“ ­habe.

Als wichtigstes Ziel haben die Schüler an die erste Position der Themensäule eins (Stabilität sichern) gesetzt: die Differenzen mit den USA begleichen. „Man muss den Weg der Globalisierung weitergehen, um so eine Abkopplung einzelner Länder von der Weltwirtschaft zu verhindern“, sagt Lorenz (17). Weitere wichtige Punkte sind: die Steuerhinterziehung bekämpfen und das energieeffiziente Bauen fördern.

Wenn es darum geht, die Zukunftsfähigkeit zu verbessern, setzen die Gymnasiasten aus Volksdorf auf den Ausstieg aus der Atomenergie aller G20-Staaten bis 2030. „Was bedeutet, dass vor allem in den USA, Russland, Indien und China keine Planung und kein Bau neuer Kernreaktoren mehr vollzogen wird“, sagt Berit (17). Und Ardita (17) fügt hinzu: „Wichtig sind uns außerdem Bildung und gleiche Bezahlung für Frauen sowie die Förderung von Elektroautos.“

Mehr Unterstützung für Afrika, die Bekämpfung des Terrors sowie der globale Kampf gegen Korruption und Geldwäsche sind die drei wichtigsten Positionen in Themensäule drei (Verantwortung übernehmen). „Korruption und Geldwäsche betreffen alle Länder dieser Welt und verschlingen jährlich bis zu 1,75 Billionen Euro“, sagen Annik (17) und Finn (17). Sie wollen versuchen, auf dem Gipfel der Schüler heute und morgen ihre Positionen mit Zahlen, Fakten und guten Argumenten durchzubringen. Dass das G20-Treffen in Hamburg stattfindet, sehen sie als Chance für die Stadt, sich zu präsentieren. Man könne sicherlich gezielt gegen einzelne Teilnehmer demonstrieren, aber es gebe keinen Grund, gegen das Treffen zu demonstrieren. „Ein Austausch ist in jedem Fall besser, als gar nicht mehr miteinander zu reden“, sagen sie.