Der Hamburger Holger Senzel teilt sich mit Ehefrau Lena Bodewein beim ARD-Hörfunk eine Stelle in Singapur – und schreibt über ihr Familienleben in einem besonderen Stadtstaat

Die Luft ist dick wie Suppe, erfüllt von faulig-süßem Tropenaroma und dem Geschnatter exotischer Vögel. Schweiß bricht sturzbachartig aus allen Poren. 18 Stunden zuvor sind wir in Hamburg bei eisigem Nieselregen aufgebrochen: in eine neue Heimat, einen neuen Job, ein neues Leben.

Unser fünf Jahre alter Sohn – unausgeschlafen nach dem langen Flug – erbricht sich im Taxi auf dem Weg vom Flughafen in die City. Der Fahrer entschuldigt sich, dass er so schlecht gefahren sei. Willkommen in Singapur!

Alle entschuldigen sich hier wie in ganz Asien permanent für alles. Der schlecht gelaunte Sohn blamiert uns im Café mit seinem Gebrüll. Sofort eilt die Kellnerin an unseren Tisch und bittet um Verzeihung, weil das Kind sich in ihrem Laden nicht wohlfühle. Die Tochter eines Airline-Chefs macht Schlagzeilen, weil sie in einer Maschine ihres Vaters randaliert – der Vater und Vorstandschef entschuldigt sich, weil er seine Tochter so schlecht erzogen habe. Niemand darf das Gesicht verlieren – das bestimmt den Alltag wie auch die politische Auseinandersetzung in Asien.

Als wir später für die deutschen Radiosender über den Gipfel südostasiatischer Staaten berichten, verabschieden diese eine Resolution zur Aggression Pekings im Südchinesischen Meer, ohne China ein einziges Mal beim Namen zu nennen. Was bei uns als „klare Worte“ geschätzt wird, ist in Asien als „Megaphondiplomatie“ verschrien.

Von Singapur aus berichten wir über 14 Länder. Kommunistische Volksrepubliken wie Vietnam und Kambodscha, bitterarme Länder wie Laos und Myanmar, das superreiche Singapur, die Militärdiktatur Thailand, das Sharia-Sultanat Brunei – Südostasien-Korrespondent ist in etwa so bunt und vielfältig, als würde man sagen: Ich gehe nach Europa. Dazu Neuseeland, Australien, die Südsee. Ein Traumjob mit vielen Reisen. Aber funktioniert das als Familie? Wird unser Sohn sich wohlfühlen in der fremden Welt?

Es ist das erste Mal, dass die ARD ein Ehepaar entsendet, um sich eine Korrespondentenstelle zu teilen. Meine Frau Lena und ich waren beide schon „draußen“ – sie in New York und ich in London. Wir waren daher sofort Feuer und Flamme, als der NDR uns vorschlug, gemeinsam aus Singapur zu berichten. Oft ist es ja schwierig für die Partnerschaft, wenn einer den Auslandsjob bekommt und der andere ihm zuliebe mitgeht; eigene berufliche Ambitionen zurückstellt, sich zuweilen einsam und verloren fühlt im fremden Land – während der Korrespondent ganz und gar aufgeht im neuen Job. Viele sind geschieden nach Deutschland zurückgekommen. Die Zeiten, als der Mann nach Hause kam und verkündete: Schatz, pack die Koffer und die Kinder, wir ziehen nach Washington – die sind lange vorbei.

Wir Deutsche sind unfassbar reich und privilegiert

Wir teilen uns den Job wochenweise. Am Anfang finde ich die „Freizeit“ mit Kind sehr viel anstrengender als die Arbeit. Da haben wir noch keinen Platz im Schulbus, und ich muss Johnny mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Kindergarten bringen. Jeden Morgen der gleiche Kampf: „Ich will nicht in den Kindergarten!“ Jeden Morgen der gleiche schweißtreibende Kampf bei schwülen 33 Grad. Und meine Frau darf im Büro sitzen: Niemand schreit sie an, keiner wirft sich auf den Boden, sie tut interessante Dinge und bekommt Anerkennung. Wie haben es vergangene Männergenerationen bloß geschafft, ihren Frauen weiszumachen, sie hätten im Büro den anstrengenderen Job? Aber auf Dauer merke ich auch, wie viel die Zeit mit meinem Sohn mir gibt, wenn ich mich wirklich darauf einlasse, statt es als lästige Pflicht zu sehen. Verstecken spielen im Garten, sich über Zeichentrickfilme schlapplachen, wieder ein bisschen Kind sein, während Mama über die Wahl auf den Philippinen berichtet. Kopfschüttelnd erzählt Lena mir abends vom neuen Präsidenten Rodrigo Duterte, der verspricht, alle Drogendealer abzuschlachten. Ich zeige stolz das Zeitlupenvideo von Einsturz unseres Lego-Turms. Bis an die Decke haben wir ihn gebaut – ein Meisterwerk der Statik, finde ich – aber Johnny wollte mit seinem Zerstörungswerk nicht bis zur Rückkehr meiner Frau warten.

Natürlich reden meine Frau und ich viel über den Job – das ist normal, wenn du dir Bett und Büro teilst. Aber wir empfinden es nicht als Bürde. Es schweißt uns eher noch enger zusammen, dass wir Erlebnisse teilen können. Die Schwierigkeiten und Herausforderungen des anderen verstehen. Meine Frau fährt nach Laos, um über ein Bombenräumprojekt zu berichten. Erzählt von Kindern im Alter unseres Sohnes ohne Arme und Beine, weil sie beim Spielen auf die Bomben eines längst vergessenen Krieges getreten sind.

Ich komme zurück aus Myanmar – dem früheren Birma – wo die Partei der Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi vor einem Jahr die Militärdiktatur abgelöst hat. Fasziniert von den Bildern eines Asiens aus dem 19. Jahrhundert: Männer mit Strohhüten, Ochsenpflüge auf Reisfeldern, goldene Pagoden, üppiges Grün, farbenfrohe Sarongs. Aus diesem bunten Gemälde trittst du in die staubige sepiafarbene Welt der Flüchtlingslager für die Rohingya, der verfolgten muslimischen Minderheit. Tausende Menschen in Hütten aus Wellblech, Bast oder Holz auf diesen weiten ausgetrockneten Ebenen. Kinder – nackt oder in Lumpen –, die dich um Essen anbetteln. Weitgehend sich selbst überlassen, nur unregelmäßig versorgt mit Reis, versuchen die Flüchtlinge anspruchslosen Chili anzubauen auf unfruchtbaren Böden. In einem düsteren Verschlag liegt eine Frau bei 30 Grad zitternd unter einer schmutzigen Decke, fieberkrank, ohne Arzt, ohne Medikamente, das zehn Monate alte Kind spielt daneben im Dreck. Ich bin ein bisschen beschämt über meinen Widerwillen gegen den Geruch der Armut. Ja, Armut riecht, sie stinkt sogar: nach ranzigem Fett und Kohlefeuern in fensterlosen Hütten, Schweiß, überlaufenden Toiletten.

Und frage mich, womit diese Menschen es verdient haben, so unwürdig dahinvegetieren zu müssen. Und womit wir es verdient haben, uns über Kork im Wein ärgern zu können. Lena und ich blicken anders auf die Welt, seit wir über sie berichten. Dankbarer, demütiger. Auch anders auf Deutschland. Sind uns sehr bewusst, wie unglaublich reich und privilegiert wir und unsere Mitbürger sind und dass die Deutschen eigentlich wenig Grund zum Jammern haben.

Singapur hat meine Wertmaßstäbe verschoben: Ein guter Vater zu sein – das halte ich inzwischen für die größere Herausforderung, als ein guter Korrespondent zu sein.

War die U-Bahn verspätet, steht es auf der Titelseite

Letztlich jedenfalls stimmt die Balance: Wir haben beide nie zuvor mit so viel Freude und Leichtigkeit unsere Arbeit gemacht – und gleichzeitig nie zuvor ein so intensives Familienleben gehabt. Manchmal – wenn wir in einer der vielen Garküchen bei eiskaltem Tigerbeer die exotische Mixtur auf unseren Tellern genießen und uns dieses Lebens freuen – fragen wir uns, wo der Haken an der Sache ist.

Der Alltag in Singapur selbst ist angenehm. Die Menschen sind höflich und voller Rücksichtnahme, es gibt viele wunderschöne Gärten und Grünanlagen, ehrgeizige Architektur, fantastisches Essen, Strand und Meer, Shakespeare im Park, die Infrastruktur ist nahezu perfekt. Wenn die U-Bahn Verspätung hat, steht es am nächsten Tag auf der Titelseite der „Straits Times“.

Natürlich ist der Stadtstaat am Südchinesischen Meer nach westlichen Maßstäben keine Demokratie. Seit 60 Jahren herrscht dieselbe Partei und verhält sich ihren Bürgern gegenüber wie ein autoritärer Vater, der am besten weiß, was gut für seine Kinder ist. Schmutzige Lieder singen, Kaugummi ausspucken, nackt in der eigenen Wohnung herumlaufen, Essen in der U-Bahn – alles bei horrenden Geldbußen verboten. Drogendealer werden gehängt, kein Staat vollstreckt im Verhältnis zur Bevölkerung so viele Todesurteile. Graffiti-Künstler werden mit Stockhieben bestraft.

Die U-Bahn-Stationen sind so geleckt wie bei uns allenfalls Operationssäle. Es macht uns nachdenklich, dass unser Sohn auf seinen ersten Bildern Überwachungskameras malt. Die autoritäre Regierung sorgt allerdings auch dafür, dass der Multikultistaat reibungslos funktioniert. Buddhisten, Hindus, Moslems, Christen – Hunderte Religionen und Ethnien leben hier nebeneinander, Weihnachten ist ebenso Feiertag wie Zuckerfest und chinesisches Neujahr und Toleranz staatlich verordnet. Öffentlich geäußerter Rassismus ist undenkbar, jedes Jahr gehen Menschen wegen „Störung des friedlichen Zusammenlebens“ in den Knast; das Gesetz wird freilich auch benutzt, um unliebsame Journalisten oder Regimegegner mundtot zu machen.

Trotzdem sind die meisten Singapurer stolz auf ihren Staat. Die Regierung sorgt für die Menschen – das hört man hier oft. Probleme gebe es doch bloß dort, wo die Regierung alle vier oder fünf Jahre wechsele. Es ist ein Geschäft: Anpassung gegen gutes Leben, eine neureiche Wohlfühldiktatur. Die Regierung will, dass die Fünf-Millionen-Me­tropole grüner wird – also wird Fassadenbegrünung Pflicht. Ein Auto anzumelden kostet 100.000 Dollar, so verschandeln keine Schrottkarren das Bild, die Einnahmen fließen in den Nahverkehr. Und kein Redakteur lamentiert, die Autofahrer seien die Melkkühe der Nation.

Erstens bekäme er wohl Pro­bleme mit der Zensurbehörde und zweitens vermutlich gar nicht auf die Idee, weil schließlich alle profitieren von besserer Luft, weniger Staus und vorbildlichem Nahverkehr. „Wir haben hier traditionell eine andere Vorstellung von Freiheit“, erklärt mir ein Singapurer Stadtrat, „das Gemeinwohl steht über dem Individuum.“ Streiks während der Fußball-WM etwa, wie vergangenes Jahr in Frankreich, wären in Singapur undenkbar. Wieso sollte die Mehrheit der Fußballfans unter den Interessen einer kleinen Gruppe leiden?

Bei der PISA-Bildungsstudie liegt Singapur jedes Mal ganz vorne. „Was machen die Schulen anders?“, wollen die Redaktionen in Deutschland wissen, und ich beginne meine Recherche natürlich mit der westlichen Brille: eine rein auf Leistung zentrierte Gesellschaft, die ihrem Nachwuchs mit gnadenlosem Lerndrill die Kindheit nimmt.

Aber dann fragen mich Singapurer Eltern, ob das nicht der Sinn von Kindheit sei: auf das Leben vorzubereiten. Und woher ich denn so genau weiß, dass Kinder lieber spielen als lernen. Für Lehrerinnen und Lehrer hier ist die wichtigste Aufgabe: dass die Kinder lernen, aber dabei trotzdem auch Spaß haben. Selbstverständlich werden Smartphones, Computer und Facebook in den Unterricht integriert, „weil wir die Schüler sonst verlieren“.

Je mehr ich weiß, desto schwerer fällt mir ein Urteil. Aber letztlich geht es auch nicht um besser oder schlechter oder ob ich meinen Sohn dem aussetzen möchte (er geht in die deutsche Schule). Sondern dass es unterschiedliche Sichtweisen auf das Leben gibt und unterschiedliche Ansätze, es zu meistern. Und trotzdem am Ende bei allen kulturellen Unterschieden die Menschen überall auf der Welt dieselben Träume, Ängste und Sehnsüchte haben von Familie, Frieden, Wohlstand und einer guten Zukunft für ihre Kinder.

Das ist das Schöne an diesem Beruf: Du gehst jeden Abend ein Stück klüger ins Bett, als du morgens aufgestanden bist. Es ist ein großes Geschenk, eine Zeit lang in einer fremden Kultur zu leben – und dies als Familie zu tun. Sich einzulassen, zu lernen, zu staunen, fasziniert zu sein. Wir werden sehr viel reicher zurückkommen nach Deutschland, wenn unsere Zeit in Singapur vorbei ist. Und wir werden auch gerne zurückkehren. Denn so sehr wir das Leben in Asien genießen, so spüren wir auch gerade in der Fremde unsere Wurzeln.

Den ersten Urlaub haben wir vergangenen November in Hamburg verbracht. Einen trüben Tag auf dem Sofa vergammelt, Kerzen angezündet, draußen tiefgrauer Himmel und eiskalter Regen – herrlich. Zugegeben, man vergisst bei so einer Stippvisite schnell, wie lang ein Hamburger Winter sein kann, denn in Singapur ist es immer Sommer, 30 Grad und schwül, um 7 Uhr morgens geht die Sonne auf, um 19 Uhr geht sie unter – 365 Tage im Jahr. Das hat uns allerdings nicht daran gehindert, vor Weihnachten Freunde und Bekannte zum Glühweintrinken mit Lebkuchen und Stollen einzuladen. Vorhänge zu, Klimaanlage auf volle Pulle, und es schmeckte fast wie zu Hause.