Die einen glauben fast, plötzlich in einem Polizeistaat zu leben. Andere dagegen befürworten das Großaufgebot anlässlich der OSZE-Konferenz. Momentaufnahmen von einem sehr besonderen Tag im Dezember

Ausnahmezustand. Das ist so ein Wort, das gerne dann verwendet wird, wenn etwas Apokalyptisches massiv die öffentliche Ordnung stört und den ganz normalen Alltag von Tausenden von Menschen durcheinanderwirbelt. Bürgerkriege zum Beispiel, Revolutionen und Aufstände oder Naturkatas­trophen. Im Falle der zweitägigen OSZE-Konferenz der Außenminister, die heute in der Hamburg Messe an der Karolinenstraße beginnt, geht es um das Gegenteil: Die Politiker wollen Frieden und Sicherheit in Europa. Und weil Hamburg für die Sicherheit der Politiker zu sorgen hat, läuft in diesen Tagen der größte Polizeieinsatz in der jüngeren Geschichte der Stadt. In der City kann man da schon den Eindruck gewinnen, es herrsche Ausnahmezustand. Dabei geht das Leben zwar nicht ganz seinen gewohnten, aber doch seinen Gang.

Seit Dienstagabend sind rund 13.200 Polizisten aus allen Bundesländern, davon 2700 Bundespolizisten, die am Helmut-Schmidt-Flughafen und an Bahnhöfen Dienst tun, im Einsatz. Ihre Präsenz zu Land, zu Wasser und in der Luft ist unüberseh- und -hörbar.

Das Sicherheitskonzept beginnt bereits in einem Umkreis von gut 25 Kilometern rund um die Stadt, im sogenannten Speckgürtel, wo Beamte der Bundespolizei – wie etwa in Ahrensburg – Pendlerzüge genauer unter die Lupe nehmen. Je näher man dann den Hotspots in der Innenstadt kommt, desto imposanter wird die Polizeipräsenz: Auf der Alster kreuzen Boote der Wasserschutzpolizei, über dem Rathausmarkt steht ein Polizeihubschrauber in der Luft. Insgesamt sollen zehn solcher Hubschrauber nach Angaben der Hamburger Polizei im Einsatz sein, dazu 20 Wasserwerfer und zahlreiche Boote im Hafen.

Zwischen dem Rathaus (Westseite) und der Baustelle Alter Wall halten um 14 Uhr zwei Off-Road-Trucks mit Frankfurter Kennzeichen. Touristen schauen interessiert dabei zu, wie ein halbes Dutzend maskierter Polizeibeamter aus den japanischen Fabrikaten springt. Die Beamten laden zwei grün lackierte Blechkisten aus, in denen sich – vermutlich – Präzisionsgewehre befinden. Denn auch Scharfschützen gehören zum Sicherheitsaufgebot. Wo sie überall Stellung beziehen werden, bleibt selbstverständlich geheime Verschlusssache. Auf dem Rathausbalkon ist dann am Nachmittag einer zu entdecken, als US-Außenminister John Kerry den Weihnachtsmarkt besucht.

Schon am frühen Mittwochmorgen richteten Beamte an den Messehallen zwei Sicherheitszonen ein. An den Straßen rund um die Messehallen wurden Autos abgeschleppt und Metallgitter aufgebaut. Nach Angaben der zentralen Verwahrstelle wurden viele Autos jedoch nur umgesetzt und kamen nicht in den gefürchteten, weil teuren „Autoknast“ an der Ausschläger Allee.

Die Polizei kontrolliert – auch Fahrradklingeln

Überall in der Innenstadt parken offizielle und zivile Einsatzfahrzeuge. Beamte patrouillieren in kleinen Gruppen oder überprüfen stichprobenartig Passanten an den insgesamt zehn Kon­troll­posten, die innerhalb der erweiterten Sicherheitszonen oder im Sperrgebiet selbst arbeiten oder wohnen. Die Zahl der wirklich betroffenen Anwohner hält sich jedoch stark in Grenzen, denn tatsächlich liegt nur ein einziges Wohnhaus in der Flora-Neumann-Straße im eigentlichen Sperrgebiet. Die Bewohner können jederzeit das Haus verlassen, sollten aber ein gültiges Ausweisdokument mitnehmen. „Das nervt schon etwas“, sagt einer, der seinen Namen nicht veröffentlicht sehen möchte, „aber noch mehr nervt es, dass wir seit Tagen gefragt werden, ob uns die Situation nerven würde.“

Die zehn Kontrollpunkte rund um das Messegelände sind 24 Stunden am Tag besetzt. Pauschale Kontrollen wird es jedoch nicht geben. „Wenn jemand seinen Ausweis nicht dabeihat, werden wir unbürokratische Lösungen finden“, verspricht Polizeisprecher Timo Zill.

Seit gestern Morgen bewachen Polizisten darüber hinaus alle Straßen und Zugänge zum Schanzenpark sowie den S-Bahnhof Sternschanze. Durch diese Maßnahme staute sich der Verkehr im Bereich rund um die Messe mehr als üblich. Laut Polizeiangaben wurden ebenfalls einige Straßen im Stadtteil Rotherbaum komplett gesperrt, und auch rund um die Alster gab es häufig nur zäh fließenden Verkehr.

Die Werber der Agentur Jung von Matt in der Glashüttenstraße, von denen einige ihre Mittagspause vor dem Büro auf dem Bürgersteig verbringen, sehen die Situation am Tag vor dem eigentlichen Beginn der Konferenz gelassen – und feixen ein wenig über ihren Kollegen Mark Schulz (24), Kreativ-Konzeptionist, der am Morgen auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz am Kontrollpunkt Flora-Neumann-Straße nicht nur seinen Ausweis vorzeigen musste: „Ich glaube, die Polizisten haben sich gelangweilt. Denn plötzlich fingen sie an, mein Fahrrad zu kontrollieren. Einem der Beamten war aufgefallen, dass ich keine Klingel am Lenker habe.“ Aber er sei „noch mal mit einem Verweis davongekommen“, erzählt der junge Mann und wirkt dabei nur leidlich amüsiert.

Auch in den offiziellen Konferenzhotels, dort, wo die Außenminister und ihre Delegationen sowie die meisten Medienvertreter aus aller Welt untergebracht sind, herrscht jeweils die höchste Sicherheitsstufe. Alle Herbergen wurden von Beamten des Bundeskriminalamts gründlich überprüft. Die Fünfsternehotels, die die Außenminister und ihre Delegationen beherbergen, sind seit Dienstagmorgen mit Gittern abgesichert. Autos, die in den Bereich fahren wollen, werden besonders gründlich von Polizeibeamten kontrolliert. Mit einem Spiegel untersuchen sie auch die Unterböden.

Auf dem Weihnachtsmarkt auf dem Rathausmarkt herrscht dagegen glühweinselige Stimmung, so wie eigentlich immer. Die Absperrgitter, mit denen das Rathaus erst in der Nacht zum Donnerstag umgürtet wurde, stehen zwar griffbereit, aber sie sind am Mittwochnachmittag noch dezent unter Tannenzweigen verborgen. An den Ständen ist die OSZE-Konferenz kein Thema, aber allgemein wird gelobt, dass der Markt trotz des politischen Großereignisses geöffnet bleiben darf. Angesichts der horrenden Standmieten, die von den Händlern und Gastronomen berappt werden müssen, wären zwei Tage Umsatzverlust sicherlich nicht durchsetzbar gewesen.

„Aber viele Einzelhändler in der Innenstadt klagen natürlich über das Polizeiaufgebot“, sagt Brigitte Engler, Geschäftsführerin vom City Management Hamburg, „denn der Zeitpunkt der Konferenz, mitten im vorweihnachtlichen Handel, ist schon etwas unglücklich gewählt.“ Denn die Hamburger seien inzwischen ziemlich erfahren im Umgang mit Großveranstaltungen. „Wenn die Menschen wissen, dass es in der Stadt zu Behinderungen kommen könnte, bleiben viele lieber zu Hause und warten ab, bis das Spektakel vorbei ist. Ich muss jedoch sagen, dass die Polizei ihre Aufgabe mit viel Fingerspitzengefühl erledigt.“ Leider hätten jedoch zahlreiche Schulklassen ihre Besuche auf den traditionellen Märchenschiffen am Anleger Jungfernstieg für die nächsten beiden Tage abgesagt. „Aber ab Sonnabend kehren wir ja glücklicherweise schon wieder in unseren ganz normalen Adventsmodus zurück“, sagt Brigitte Engler und klingt jetzt doch etwas erleichterter.

John Kerry schlenderte über den Weihnachtsmarkt

Massive Polizeipräsenz ist aber nur ein Teil des Sicherheitskonzepts. Den anderen könnte man als „Überraschungseffekt“ bezeichnen. Deswegen konnte US-Außenminister John Kerry am Mittwochnachmittag ganz spontan und beinahe unbemerkt auf dem Weihnachtsmarkt am Jungfernstieg einkaufen gehen. Er verließ am Nachmittag das Hotel Fairmont Vier Jahreszeiten an der Binnenalster und schlenderte inmitten seiner Begleiter und Sicherheitsbeamten entspannt an den Buden vorbei, sprach auch mit einigen Passanten. An einem Stand mit mediterraner Olivenholzkunst blieb der Außenminister stehen, ließ sich vom Verkäufer beraten und kaufte schließlich vier kleinere und zwei größere Holzgefäße. Nach Angaben des Händlers werden die Waren in Tunesien von einem Familienbetrieb in Handarbeit hergestellt. Kerry bezahlte mit einer Kreditkarte und sprach dabei auch etwas Deutsch. Dann brauste plötzlich eine Wagenkolonne heran, fuhr zunächst Richtung Ballindamm, wendete und hielt auf dem Jungfernstieg. Kerry und seine Begleiter stiegen ein und fuhren mit unbekanntem Ziel davon.

Das hätte auch ein anderer Mann gerne getan – dem Räuber wurde die große Polizeipräsenz in Hamburg am Mittwoch allerdings zum Verhängnis: Der Mann hatte versucht, aus einem Supermarkt am Nobistor Waren im Wert von 60 Euro zu stehlen. Als ihn eine Verkäuferin aufzuhalten versuchte, bedrohte er diese mit einer offensichtlich gebrauchten Spritze und flüchtete. Die Angestellte und eine Kollegin folgten dem Mann und machten eine Streife der Bundespolizei, die dort anlässlich des OSZE-Gipfels im Einsatz war, auf den Mann aufmerksam. Die Beamten nahmen den Mann sofort fest und übergaben ihn an die Kollegen der Hamburger Polizei.

Ob das Sicherheitskonzept auch im Großen aufgehen wird, zeigt sich dann ab heute, wenn die Konferenz beginnt. Mehrere (kleinere) Demonstrationen wurden angemeldet (siehe Bericht Seite 14), auch am Jungfernstieg. Mit größeren Ausschreitungen rechnet die Polizei aber nicht. Möge sie recht behalten.