Hamburg. Vor genau einem Jahr stellten sich die Bürger gegen eine Bewerbung um die Ausrichtung der Sommerspiele 2024.Die Folgen des Votums sind vielfältig

Björn Jensen

Bernhard Schwank ist überrascht, als ihn der Anruf des Abendblatts erreicht. „Diesen Jahrestag hatte ich wirklich nicht drauf“, sagt der 56-Jährige. Kaum zu glauben, immerhin war Schwank am 29. November 2015, als die Bürgerinnen und Bürger Hamburgs mit 335.638 Neinstimmen (51,6 Prozent) die Pläne Hamburgs, die Sommerspiele 2024 auszurichten, zunichte machten, Stellvertreter des Geschäftsführers der Bewerbungs GmbH und als Vorstand Internationales im Deutschen Olympischen Sport-Bund (DOSB) maßgeblich an der Kampagne beteiligt.

Ein Jahr ist es nun also her, dass die von einer breiten Allianz aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport getragene, aber ohne das Wohlwollen der Bevölkerung zum Scheitern verurteilte Olympiabewerbung im Referendum durchgefallen ist. Über die Gründe ist viel spekuliert worden, aber weder die Stadt noch der DOSB haben die Entscheidung bis heute tiefgehend aufgearbeitet.

Immer wieder wurde die unklare Finanzierung der Spiele als Argument angeführt. Der von Bürgermeister Olaf Scholz im Oktober 2015 vorgestellte Finanzplan sah vor, dass Hamburg rund 1,2 Milliarden Euro der Kosten übernehmen würde, der Bund dagegen 6,2 Milliarden. Aus Berlin gab es dazu bis zum Ende der Abstimmung keine klare Aussage. Die meisten Zahlen waren der Bundesregierung schon seit Ende Juli 2015 bekannt. Und als Anfang August Kanzlerin Angela Merkel (CDU) bei einem der vielen Treffen mit Scholz sagte, „mit Hamburg haben wir in den nächsten Jahren noch viel vor“, musste die Stadt davon ausgehen, dass Olympia nicht an fehlenden Zuschüssen des Bundes scheitern würde.

Denn bereits im August stand fest, was erst viel später kommuniziert wurde: Hamburg sollte während der deutschen Präsidentschaft den G20-Gipfel im Juli 2017 ausrichten. Der Plan war: Zwei Monate vor der Abstimmung des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) in Lima (Peru) über die Sommerspiele 2024 sollte die Stadt wahrnehmbar auf die internationale Landkarte gesetzt werden.

Als kurz danach die Bewältigung der Flüchtlingsströme zum beherrschenden innenpolitischen Thema wurde und zudem die Gefahr terroristischer Anschläge das Sicherheitsgefühl nachhaltig beeinträchtigte, rückte die Finanzierung möglicher Spiele in Hamburg in den Hintergrund – mit der Folge, dass aus Berlin keine verbindlichen Ansagen zum Bundesanteil kamen.

Wie auch immer: Der 29. November 2015 ist Geschichte – was aber ist geblieben von der Bewerbung? Wer das wissen möchte, der muss mit Nikolas Hill reden. Den 44-Jährigen hat das Thema bis heute nicht losgelassen. Hill war Geschäftsführer der Olympia-Bewerbungs GmbH und ist aktuell noch im Rahmen seiner Anstellung als Staatsrat mit der Liquidation der GmbH betraut, die zum 1. März dieses Jahres begonnen hatte. Gemeinsam mit Tobias Kannen vom Wirtschaftsprüfungsunternehmen Deloitte ist Hill derzeit verantwortlich für die Abwicklung des Geschäftsbetriebs.

„Wir beschäftigen uns mit der Bearbeitung von Forderungen früherer Geschäftspartner. Alle denkbaren Ansprüche müssen abgegolten oder zurückgewiesen werden“, erklärt er. Berichtet wird an die mit Vertretern der sechs Gesellschafter DOSB (51 Prozent), Stadt Hamburg (26), Bund (18), Land Schleswig-Holstein, Segelstandort Kiel (je 2) und Handelskammer Hamburg (1) besetzte Gesellschafterversammlung, die über alle Beschlüsse der beiden Liquidatoren abstimmt und nach Abschluss von deren Arbeit die testierte Abwicklung bestätigen muss. Einen genauen Zeitpunkt für die Löschung der Bewerbungs GmbH – und damit das offizielle Ende des Hamburger Olympiatraums – kann Hill ebenso wenig nennen wie die genauen Kosten. „Ich rechne damit, dass die Löschung in der zweiten Jahreshälfte 2017 abgeschlossen ist. Wir kalkulieren mit rund 5,5 Millionen Euro Kosten“, sagt er. Diese betreffen allerdings nur die GmbH.

Wie tief das Misstrauen der Olympiagegner im Hinblick auf die Kosten weiterhin sitzt, zeigt die jüngste Offensive der Fraktion Die Linke, deren stadtentwicklungspolitische Sprecherin Heike Sudmann auf Basis mehrerer Senatsanfragen die Kosten nach eigenen Berechnungen auf 22 Millionen statt die bislang offiziell angegebenen zwölf Millionen Euro beziffert. „Der Senat verschleiert die Bewerbungskosten. Das ist ein neues Desaster für SPD und Grüne. Man kann den Olympiagegnerinnen und -gegnern nur dankbar sein, dass sie Hamburg vor der finanziellen Katastrophe bewahrt haben“, sagt Sudmann.

Staatsrat Hill kann zwar erst nach der durchs Finanzamt testierten Unbedenklichkeit die exakten Kosten der Bewerbungs GmbH beziffern. Wichtig ist ihm, dass die fast 40 Mitarbeiter, deren Zeitverträge nur bis Ende 2015 galten und die ihre Arbeitsplätze durch das negative Votum verloren, mittlerweile alle wieder neue Stellen gefunden haben. „Insofern ist das Ganze glimpflich ausgegangen“, sagt Hill, der den Jahrestag mit gemischten Gefühlen erwartet. „Einerseits glaube ich, dass der Stadt eine große Chance entgangen ist. Andererseits haben wir viele positive Erfahrungen machen dürfen, die bei möglicherweise kommenden Bewerbungen hilfreich sein können“, sagt er.

In Hamburg werden diese Erfahrungen auf absehbare Zeit nicht benötigt. Der organisierte Sport hatte nach dem Referendum einige Monate gebraucht, um sich aus seiner Schockstarre zu lösen. „Ein halbes Jahr lang schien der Sport in Hamburg in Agonie gefallen zu sein, doch was wir jetzt mitbekommen, macht einen guten Eindruck“, sagt DOSB-Präsident Alfons Hörmann. Dass mit dem Masterplan Active City, den Sportsenator Andy Grote am vergangenen Dienstag vorgestellt hatte, ein olympisches Erbe bewahrt und angedachte Projekte fortgeführt werden sollen, lasse ihn hoffen, dass die Olympiakampagne Stadt und Sport nachhaltig wertvolle Impulse verliehen habe.

Senator Grote, dessen Vorgänger Michael Neumann am 18. Januar zurücktrat, wieder als Dozent für Politikwissenschaften an der Helmut-Schmidt-Universität lehrt und aktuell das Buch „Volkes Stimme – Diskussionsbeiträge zur direkten Demokratie in Hamburg“ herausgegeben hat, sieht das ähnlich. In einem Abendblatt-Interview am vergangenen Sonnabend sprach er von „einer Menge neuer Weichenstellungen für den Hamburger Sport in den vergangenen zwölf Monaten – und alle in die richtige Richtung“.

Ingrid Unkelbach, Leiterin des Olympiastützpunktes Hamburg/Schleswig-Holstein, kann dem nur bedingt zustimmen. „Der Masterplan Active City ist keine Alternative für die Olympiabewerbung. Ich würde mir wünschen, dass Spitzensportprojekte noch mehr in das Konzept aufgenommen werden, als das bislang der Fall ist“, sagt sie. Man habe 2016 keinen spürbaren Unterschied zu der Zeit vor dem Referendum festgestellt. „Aber nun muss sich zeigen, wie es weitergeht. Der Senator signalisiert uns immer wieder Unterstützung für den Leistungssport. Klar ist: Wir brauchen Olympia, und wir brauchen die Leistungssportler als Botschafter, damit die olympische Idee weiterlebt.“

Daran arbeiten mit der Stiftung Leistungssport (Stammkapital: sieben Millionen Euro) und der Alexander-Otto-Sportstiftung, die in den zehn Jahren ihres Bestehens 14 Millionen Euro hauptsächlich in Breitensportprojekte investiert hat, zwei wichtige Unterstützer. Die Stiftung Leistungssport, die zu gleichen Teilen mit dem Hamburger Sportbund und der Stadt die im Team Hamburg zusammengefassten Hamburger Olympioniken fördert, die in Rio so erfolgreich waren wie nie zuvor, arbeitet aktuell an einer Neuausrichtung des Hamburger Sports. „Wir wollen die Maßnahmen bündeln, Zentralisierung ist das Stichwort. Außerdem wollen wir mehr Nachhaltigkeit, indem wir zum Beispiel die besten Trainer für den Nachwuchs verpflichten“, sagt Geschäftsführer Alexander Harms.

Senator Grote verweist auf die Breite des Sportkalenders

Trotz der Schwäche der publikumswirksamen Proficlubs – nach dem Aus der Eishockey-Freezers, HSV-Handballer und Aurubis-Volleyballerinnen sind in keiner der Topligen außerhalb des ebenfalls schwächelnden Fußballs Hamburger Clubs vertreten – verweist Grote zu Recht auf die Breite des Sportkalenders mit Triathlon, Marathon, Cyclassics, Tennis und Beachvolleyball am Rothenbaum sowie den Pferdesport-Großevents in Klein Flottbek und Horn. „Mein Eindruck ist, dass der Sport in Hamburg für die Zukunft gut aufgestellt ist“, sagt der 48-Jährige.

Auch Bernhard Schwank glaubt, dass das Referendum keine bleibenden Schäden hinterlassen hat. Er hält die Idee, Olympische Spiele in Deutschland auszurichten, weiter für nicht utopisch. „Auch wenn mir der Jahrestag nicht präsent war, gehört das Thema Olympia zu meiner Biografie, ich beschäftige mich damit weiterhin“, sagt er. Und wer weiß schon, ob er nicht nach den gescheiterten Bewerbungen mit München 2018 (da war er Geschäftsführer) und Hamburg 2024 noch eine weitere Chance erhält? Seit 1. Mai ist Schwank Abteilungsleiter Sport im Jugend-, Kultur- und Sportministerium von Nordrhein-Westfalen. Der Region, die erst kürzlich mit einer Olympiabewerbung liebäugelte ...