Angekommen in Hamburg. In der Interviewreihe sprechen Zugewanderte über ihre Grenzgänge zwischen den Kulturen. Heute: HSV-Trainer Bruno Labbadia, dessen Eltern zur ersten Generation von italienischen Gastarbeitern gehörten

Bruno Labbadia lässt sich vor dem Start der Bundesliga an diesem Wochenende Zeit. Ein paar Sätze zum Saisonstart gegen Ingolstadt fürs Fernsehen. Und auch „Sport Bild“ bittet noch einmal um fünf Minuten mit dem höflichen HSV-Trainer. Am Ende ist Labbadia knapp eine Stunde zu spät. Aber viel wichtiger: Jetzt will sich der 50-Jährige so wirklich Zeit nehmen. „Das Thema ist mir wichtig“, sagt er. „Das wollen wir in Ruhe besprechen.“

Herr Labbadia, unsere Interviewreihe heißt „Angekommen in Hamburg“. In Ihrer gesamten Profikarriere haben Sie es weder als Spieler noch als Trainer länger als drei Jahre an einem Ort ausgehalten. Kann es sein, dass Sie nun erstmals in Ihrer Karriere angekommen sind?

Bruno Labbadia: Das kommt darauf an, wie man das Wort „angekommen“ definiert. Dank meiner Familie fühlte ich mich immer auch an unterschiedlichen Orten angekommen. Ich kenne meine Frau seit 34 Jahren, bald sind wir 30 Jahre verheiratet. Mit ihr fühle ich mich immer angekommen. Und trotzdem haben Sie recht: Der Job macht einen rastlos. Heute ist man hier Trainer, morgen dort. Und Hamburg ist tatsächlich der erste Ort, wo ich mich heimisch fühle.

In einem Interview vor vielen Jahren hatten Sie Darmstadt als Ihre gefühlte Heimat bezeichnet.

Das stimmt. Dort bin ich aufgewachsen, dort wohnt noch immer ein Großteil meiner Familie. Und früher hätte ich auch nie gedacht, dass ich mich irgendwo anders so heimisch wie in Darmstadt fühlen könnte. Doch das Gefühl hat sich verändert. Ich habe mich in den vergangenen Jahren immer mehr in Hamburg verliebt. Meine Tochter zog 2008 zum Studieren hierher, 2009 bin ich dann ja erstmals HSV-Trainer geworden. Und obwohl ich nach nicht einmal einem Jahr gehen musste, blieb Hamburg seitdem immer unsere Familienbasis.

Ist Heimat wichtig für Sie?

Natürlich. Als Trainer ist man in der Regel ja mal hier und mal dort, aber irgendwie überall fremd. Stadt, Leute und Verein muss man erst kennenlernen. Und wenn man endlich ein Gefühl für den Ort entwickelt hat, dann ist man meistens auch schon wieder weg. Und mit meiner Familie fühle ich mich immer wie auf einer kleinen Insel, auf der ich alles kenne. Hamburg ist der erste Ort, wo ich diese geborgene Insel auch gerne verlasse und mich auf das Leben in der Stadt einlasse.

Gilt das auch für Ihre Familie?

Ja. Meine Kinder haben natürlich darunter gelitten, dass wir so viel umgezogen sind. Aber insbesondere meine Frau hat sich immer darum bemüht, es den Kindern zu erleichtern. Wenn also eine beste Freundin meine Tochter in irgendeinem Ort in Deutschland, an dem ich mal gespielt habe, Geburtstag gefeiert hat, dann hat sie unsere Tochter quer durch die ganze Republik dort hingefahren. Ganz ehrlich: Ich bin schon stolz darauf, dass wir eine so enge Familienbindung haben. Meine Tochter ist 28 Jahre alt und fährt noch immer gern gemeinsam mit uns in den Urlaub. Als Vater ist das das Größte.

Die Bedeutung für die Familie dürften Sie von Ihren Eltern geerbt haben.

Mit Sicherheit. Ich bewundere meine Eltern bis heute dafür, was sie sich aus dem Nichts geschaffen haben. Meine Eltern gehörten zu der ersten Generation Gastarbeiter, die in den 50er-Jahren nur mit einem Koffer nach Deutschland kamen. Aus Lenola, einem kleinen Ort zwischen Rom und Neapel. Ich konnte mir das selbst nie so richtig vorstellen, bis ich das Buch „Geboren in San Luca“ von Antonio Pelle gelesen habe. Das Buch schildert auf extrem humoristische Art und Weise, wie sich die ersten italienischen Gastarbeiter damals in Deutschland gefühlt haben müssen. Dabei war es sicherlich alles andere als lustig.

Was haben Ihnen Ihre Eltern erzählt?

Wenig. Aber natürlich fühlten sie sich zunächst nicht willkommen. Wahrgenommen als die billige Konkurrenz. Dabei mussten sie doppelt und dreifach für ihr Glück schuften. Deswegen bin ich auch doppelt und dreifach stolz auf sie. Mein Vater war Tiefbauarbeiter, meine Mutter hat in einer Gardinenfabrik gearbeitet, nebenbei als Putzfrau. Noch heute verabscheue ich es daher, wenn Menschen nicht der nötige Respekt entgegengebracht wird. Meine Eltern haben es nur mit Ehrgeiz und Fleiß geschafft, ihr eigenes Häuschen in Weiterstadt bis zur Rente abgezahlt zu haben. Mit neun Kindern, die alle versorgt werden mussten!

Hatten Sie eine glückliche Kindheit?

Ich war auf jeden Fall ein sehr glückliches Kind, auch wenn wir kaum finanzielle Möglichkeiten hatten. Bevor meine Eltern das Geld zusammengespart hatten, um mit Hilfe der Bank das Haus in Weiterstadt zu kaufen, wohnten wir in Schneppenhausen alle zusammen in vier kleinen Zimmern auf einem Bauernhof zur Miete. 75 Mark im Monat mussten wir zahlen.

Vier Zimmer für elf Personen?

Das können sich die meisten Menschen in Deutschland heute gar nicht mehr vorstellen, oder? Ehrlich gesagt kann ich mir das auch selbst gar nicht mehr richtig vorstellen. Auch ich habe mich ja mit der Zeit an ein anderes Leben gewöhnt. Gerade was die Wohnqualität betrifft. Möglicherweise bin ich da konditioniert aus meiner Kindheit. Damals wohnte ich mit fünf Geschwistern zusammen in einem Zimmer, wir schliefen zu zweit in einem Bett. Natürlich war das alles sehr beengt, aber es ging eben nicht anders. Erst 1976, als ich zehn Jahre alt war, sind wir in das Haus in Weiterstadt gezogen.

Hatten Sie das Gefühl, dass Ihnen als Kind etwas gefehlt hat?

Nicht wirklich. Ich habe schnell gelernt, auch die einfachen Dinge zu schätzen. Hinter unserem Bauernhof haben wir uns unseren eigenen Bolzplatz gebaut. Dort kam dann immer die ganze Nachbarschaft hin. Und mit meinen Brüdern musste ich mich immer um die aufgetragenen Paare Fußballschuhe streiten. Mein erstes eigenes Paar hatte ich erst mit zehn Jahren. (Labbadia überlegt lange) Zwei Sachen fallen mir dann aber doch ein, die ich als Kind vermisst habe.

Nämlich?

Zum einen hat mir mein Vater immer die Haare geschnitten, damit wir so das Geld für den Friseur sparen konnten. Leider sah ich auch entsprechend aus, bin dann meistens mit einer Mütze in die Schule gegangen. Und woran ich mich auch noch sehr gut erinnern kann: Ganz früher wollte ich unbedingt in den Kindergarten. Dafür hatten wir aber nicht genug Geld. Ich bin dann immer allein am Kindergarten im Ort vorbeigelaufen.

Ihre Eltern mussten arbeiten. Wer hat auf Sie aufgepasst?

Meine Geschwister. Die waren oft genervt, den kleinen Bruno im Schlepptau zu haben.(lacht) Damit ziehen sie mich bis heute auf. Aber für mich hatte das natürlich einen Vorteil. Weil ich immer mit meinen älteren Geschwistern zusammen war, habe ich alles immer ein wenig früher ausprobieren können.

Wurde im Hause Labbadia Italienisch gesprochen?

Mit meinen Eltern habe ich immer Italienisch gesprochen, mit meinen Geschwistern irgendwann nicht mehr. Ich habe die italienische Sprache als Kind abgelehnt.

Warum?

Es hat mich gestört, in der Schule von den Mitschülern ,Spaghettifresser‘ genannt zu werden. So ging es allen Kindern von italienischen Gastarbeitern. Also habe ich aufgehört, Italienisch zu sprechen. Leider muss ich heute sagen.

Konnten Ihre Eltern gut Deutsch sprechen?

Schon, aber kurioserweise haben sie es im Alter immer mehr verlernt. Ich glaube, dass das am Fernsehen lag. Als die ganze Sache mit dem Kabel- und Satellitenfernsehen losging, haben sich auch meine Eltern irgendwann italienisches Fernsehen besorgt.

Hatten Sie einen deutschen oder einen italienischen Pass?

Bis zum 18. Lebensjahr hatte ich einen italienischen Pass. Dann habe ich einen deutschen Pass beantragt, weil es im Fußball damals noch die Regel gab, dass man nur zwei Ausländer einsetzen durfte. In Darmstadt gab es aber drei. Hätte ich an meinem italienischen Pass gehangen, hätte ich zu Beginn meiner Fußballkarriere große Probleme bekommen können.

Hat Ihr Vater Ihre Karriereentscheidung verstanden?

Zu Beginn war er schon enttäuscht. Insgeheim hat mein Vater auch immer davon geträumt, dass ich für die italienische Nationalmannschaft spielen werde. Er war Italiener durch und durch. Irgendwann hat er es dann aber doch verstanden. Mir persönlich ist die Entscheidung gar nicht so schwergefallen. Mir ging es nicht um irgendeinen Pass. Ich fand viel wichtiger, als was ich mich eigentlich fühlte.

Sie haben zweimal für Deutschland gespielt. Haben Sie die Hymne mitgesungen?

Nein, damals hat keiner mitgesungen. Das hat niemand gewagt. Diese Zeiten sind glücklicherweise längst vorbei. Und trotzdem gehört es nicht zum Naturell der Deutschen, dass wir die Hymne so inbrünstig singen wie die Italiener oder die Brasilianer. Das hat aber rein gar nichts damit zu tun, dass man nicht genauso gern für sein Land spielt.

Sie selbst haben mal gesagt, dass Sie im Kopf ein Deutscher seien.

Ich fühlte mich immer ein bisschen mehr als Deutscher. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich noch ein bisschen deutscher als deutsch bin. Werte, Disziplin und Fleiß waren mir immer wichtig. Ich habe aber auch gelernt, ab und an ein bisschen mehr Italiener zu sein.(lacht) Das hat mir geholfen.

Zwei Herzen in einer Brust?

Das kann man so sagen. Ich liebe Italien sehr, sehe aber auch viele Defizite. Mit Deutschland ist das anders. Hier wird meiner Meinung nach viel zu wenig geschätzt, was man alles erreichen und aufbauen konnte. Deutschland ist eines der lebenswertesten Länder der Welt. Ich finde schon, dass man sich gut mit diesem Deutschland und einem Großteil seiner Grundtugenden identifizieren kann. So wie meine Eltern in den 50er-Jahren schauen auch heute wieder viele Italiener sehr sehnsüchtig nach Deutschland. Das wusste hierzulande nur kaum jemand zu schätzen. Erst in den vergangenen beiden Jahren ist das vielen wieder bewusst geworden.

Sie sprechen die Flüchtlingswelle an?

Ja. Und natürlich ist die millionenfache Zuwanderung eine riesengroße Herausforderung für Deutschland, wahrscheinlich die größte seit langer Zeit. Aber ich finde, dass dieses Deutschland, mit dem ich mich identifizieren kann, in der Pflicht ist zu helfen.

Wie?

Das kann jeder für sich selbst entscheiden. Es geht ja nicht nur um die ganz große Linie, sondern kann bei jedem mit Kleinigkeiten anfangen. Gerade als Besserverdienender sollte man bereit sein, seinen Teil für das Allgemeinwohl beizusteuern. Deswegen kann ich den Forderungen, dass man den Spitzensteuersatz senken müsste, auch nichts abgewinnen. Ein Satz, den ich mal aufgeschnappt habe, hat mich da geprägt: Ein sehr gut verdienender Bekannter hat zu mir gesagt, dass das Leben wie Skat sei: oben sticht unten. Diese Einstellung finde ich furchtbar.

Können Sie sich mit Angela Merkels historischem Satz „Wir schaffen das“ identifizieren?

Definitiv. Natürlich weiß ich, dass diese Aufgabe unglaublich schwierig zu bewerkstelligen ist. Viele Deutschen haben sicher auch Angst, etwas zu verlieren. Angst vor Einschnitten und Veränderungen. Wenn dann die Bundeskanzlerin mit einer positiven Einstellung an diese Mammutaufgabe rangeht, dann gefällt mir das. Es ist wichtig, eine Haltung und Hoffnung auch durch einfache Worte zu vermitteln, die bei vielen Menschen angekommen sind. Gerade erst habe ich einen interessanten Artikel hierzu gelesen.

Was war die Botschaft?

Es hieß, dass Hamburg zu den zehn lebenswertesten Städten der Welt zählt. Insbesondere auch deswegen, weil es die Leute gut finden, dass man die vielen Flüchtlinge hier mit offenen Armen empfangen hat. Und genau deswegen kann auch ich voller Überzeugung sagen, dass Hamburg meine Heimat ist.

Glauben Sie, dass Deutschland auch für Ihre Eltern irgendwann zur echten Heimat wurde?

(Überlegt lange) Das ist eine sehr gute Frage, die ich meinen Eltern leider nie gestellt habe. Vom Gefühl her würde ich sagen, dass für meine Mutter Weiterstadt irgendwann zur echten Heimat wurde. Sie hat sich unheimlich wohl in Deutschland gefühlt, war auch dankbar für die Chance, die das Land ihr gegeben hat. Das war mein Vater natürlich auch. Aber ich denke, dass für ihn Lenola immer die wirkliche Heimat geblieben ist.

Nächste Folge: Hanna Saliba, Gastronom aus Syrien