40 Männer werden jedes Jahr im UKE behandelt. Sie melden sich freiwillig für das Projekt „Kein Täter werden“

Die Männer treffen sich jede Woche. Manchmal sind es sechs, manchmal sieben, nie mehr als acht, die abends in einem Bürogebäude in der Nähe des Bahnhofs Altona zusammensitzen. Mehr mag Prof. Peer Briken (47) nicht sagen, kaum etwas ist für sein Therapieangebot wichtiger als Anonymität. Es sind Männer aus allen Alters- und Berufsgruppen, Ärzte und Arbeiter, Unternehmer und Lehrer. Sie duzen sich, kennen aber nur die Vornamen der anderen. Nur eines verbindet sie: Der Wunsch nach Sex mit Kindern. Sie haben sich angemeldet für ein Hamburger Präventionsprojekt, das nunmehr im vierten Jahr vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) angeboten wird und zum bundesweiten Netzwerk „Kein Täter werden“ gehört.

Wer die gleichnamige Internetseite anklickt, startet ein halbminütiges Video, in dem Männer, das Gesicht mit einer Strumpfmaske verdeckt, über ihre sexuellen Neigungen sprechen; allein die Kleidung wechselt: Anzug, Trainingsklamotten, Handwerker-Schürze. Am Ende zieht einer die Maske ab und sagt: „Ich will kein Täter werden.“

Natürlich spricht die Worte ein Schauspieler, ein paar Klicks im Internet reichen, um zu begreifen, warum sich öffentlich niemand zu pädophilen Neigungen bekennt. Allein bei Facebook wüten 15 Gruppen mit Namen wie „Todesstrafe für Kinderschänder“ oder „Todesstrafe für Kinderficker“. Facebook-Mitglieder zeigen stolz Plakate wie „Stoppt Laborversuche, nehmt Kinderschänder“ oder reimen „Als perverses Schwein bist du geboren, in diesem Leben hast du nix verloren“. In repräsentativen Umfragen findet jeder achte Deutsche, dass Sexualdelikte mit Kindern mit der Todesstrafe geahndet werden sollten.

Man sollte dies wissen, wenn man Prof. Briken in den 1. Stock des Instituts für Sexualforschung folgt, einem schmucklosen Flachbau im Westen des weitläufigen UKE-Geländes. Denn eigentlich ist der Gedanke ja kaum auszuhalten. 2015 wurden 13.760 Kinder in der Polizeistatistik Opfer sexueller Gewalt; Experten schätzen die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher, da Missbrauch im familiären Umfeld oft nicht angezeigt wird. Und derweil reden potenzielle Täter irgendwo in Altona im Schutz der Anonymität.

Briken kann verstehen, dass man das alles nur schwer verstehen kann. Mehr noch, er findet abseits dumpfer „Schwanz-ab“-Parolen eine Diskussion über die Sinnhaftigkeit solcher Therapien richtig: „Gerade in Zeiten knapper Ressourcen müssen wir uns darüber unterhalten, wofür wir das Geld ausgeben.“ Aber er sagt auch: „Unser Projekt und das Netzwerk dienen in erster Linie dem Opferschutz.“ Briken kann dafür die denkbar beste Kronzeugin aufrufen: Vera Falck, Geschäftsführerin des Hamburger Vereins Dunkelziffer, der seit 1993 für besseren Opferschutz und härtere Strafen für Missbrauch kämpft. Sie sagt: „Dieses sehr gute Projekt trägt dazu bei, sexuellen Missbrauch von Kindern zu verhindern.“ Im September läuft die Förderung durch die Justizbehörde aus. Doch Justizsenator Till Steffen stellt klar: „Das Projekt macht eine sehr wichtige Arbeit. Unsere Behörde wird weiter die notwendigen Mittel bereitstellen.“

Die Regeln für die Aufnahme sind streng. Wer im Zusammenhang mit Kindesmissbrauch in einem Strafverfahren steckt, wird abgewiesen. Nur wer sich aus freien Stücken anmeldet, darf kommen. Niemand muss zunächst seinen Namen nennen. Da die Hamburger Justizbehörde das Projekt finanziert, erfahren auch die Krankenkassen nichts. Dies, sagt Briken, sei ganz wichtig: „Viele Pädophile haben Angst, dass durch das Vorlegen der Versichertenkarte doch etwas durchsickert.“

In fünf Sitzungen von jeweils einer Stunde und mit verschiedenen Fragebögen diagnostiziert das UKE-Team zunächst den Patienten. Es dreht sich vor allem um sexuelle Interessen und eine Einschätzung des Risikos. Wie weit reichen die Fantasien von Sex mit Kindern? Gab es Versuche von Übergriffen? Wie oft werden Missbrauchsbilder im Internet geguckt? Die Ärzte und Psychologen sprechen zudem über das soziale Umfeld, Arbeit, Freunde.

Dann fällt die Entscheidung für oder gegen eine Therapie. Jedes Jahr melden sich mehr als 100 Interessenten, etwa 40 nehmen an einer Einzel- oder Gruppentherapie teil. Es ist der Moment der Wahrheit – und der Moment, in dem Briken nur für sich und sein Team den Namen, die Anschrift und die Telefonnummer erfahren will: „Nur dann haben wir die Chance, in Notfällen einzugreifen.“ Im Gegenzug erhalten die Therapieteilnehmer ein Kärtchen mit wichtigen Notrufnummern. Dies hat schon ein Leben gerettet. Als ein Therapieteilnehmer sich das Leben mit einer Flasche Schnaps und Tabletten nehmen wollte, rief er Briken an. Die vom Arzt alarmierten Notärzte kamen noch rechtzeitig; der Patient überlebte knapp.

In der Regel dauert die Therapie zwei Jahre. Die Männer sollen lernen, ihre pädophilen Neigungen zu kontrollieren. Die Ärzte und Psychologen wollen vor allem Einfühlungsvermögen für die Opfer wecken. Etwa mit der Aufgabe, das Tagebuch eines missbrauchten Kindes zu schreiben.

Manche Patienten bringen die Festplatten ihrer Rechner mit der Bitte um Vernichtung mit, weil auf ihnen kinderpornografisches Material ist. Treibt die schmutzige Seite des Internets Männer in die Kriminalität? Kann das Internet pädophil machen? „Nein“, sagt Briken, „so einfach ist das nicht.“ Zunächst sei es wichtig, die Begriffe sauber zu trennen. Pädophilie dürfe nicht mit Täterschaft gleichgesetzt werden. Briken verweist auf eine große aktuelle deutsche Studie, an der er selbst mitgearbeitet hat. Von knapp 8700 befragten Männern ab 18 Jahren räumten 4 Prozent ein, sie hätten schon mal sexuelle Fantasien mit Kindern gehabt. Aber diese Fantasien sind nicht strafbar. Die Grenze zum Delikt wird erst überschritten, wenn die sexuelle Präferenz den Impuls auslöst, sich Bilder von Kindesmissbrauch anzuschauen oder Kinder zu missbrauchen.

Briken ist überzeugt, dass die im Internet zirkulierenden Fotos und Videos Pädophilie nicht auslösen, aber bei „anfälligen Männern den Reiz verstärken kann.“ Deshalb warnt er auch dringend davor, die Datenautobahn komplett freizugeben – in der vagen Hoffnung, die virtuelle Droge reiche Pädophilen, bringe sie davon ab, sich auch in der realen Welt an Kindern zu vergreifen: „Forschungen zeigen das Gegenteil.“ Deshalb müssten Polizei und Staatsanwaltschaft vehementer gegen Kinderpornografie vorgehen: „Das Bundeskriminal-
amt arbeitet engagiert, ist aber personell zu schlecht ausgestattet.“

Und was passiert, wenn Briken und seine Mitarbeiter spüren, dass der Patient seine Fantasien in die Tat umsetzen, also ein Kind missbrauchen will? Dann steckt das UKE-Team vor dem denkbar schwierigsten Spagat. Auf der einen Seite darf die ärztliche Schweigepflicht nur verletzt werden, wenn ein schweres Verbrechen, etwa ein Mord, verhindert werden kann. Auf der anderen Seite geht es um das Wohl des Kindes. Briken macht daher jedem Teilnehmer bei Therapiebeginn klar, dass er bei Übergriffen handeln wird.

Bleibt am Ende die Frage, wie man diesen ständigen Umgang mit diesem Thema aushält, zumal Briken auch noch als Gutachter bei schweren sexuellen Delikten arbeitet. „Es stimmt, diese Sachen können einen vergiften“, sagt Briken. Ihm helfen die Gespräche, vor allem mit seinen Kollegen: „Man muss aufpassen, nicht irgendwann abzustumpfen.“