Von Sylt zur Nachbarinsel und die idyllischen Dörfer mit Grünland, Knicks und Feldern genießen

    Nein, das hat Sylt nicht verdient. Man kann den ganzen Reisehinweisen gar nicht entkommen. Esbjerg, Tondern, Ribe! Helgoland jeden Montag! Oder Frühstücksfahrt, Kaffeefahrt und Dämmertörn. Piratenfahrt mehrmals wöchentlich. Inselhopping. Zu den Seehunden inklusive Seetierfang. Mies­muscheltour. Inselkreuzfahrt. Hallig Hooge. Scholle und Makrele „satt“. Verdammt viel Schlick, Schnick und Schnack. Aber das Geschäft mit der Sylt-Flucht floriert. Warum eigentlich?

    Ich flüchte berufsbedingt. Heute geht es dorthin, wo die Nordsee mitunter an die Ostsee erinnert – oder in der umküstennebelten Fantasie mancher PR-Strategen gar an die Karibik. Auf nach Föhr! Ab Hörnum fahren Adler-Schiffe fast täglich. Allerdings können die tideabhängigen zweieinhalb Stunden durch die graue See sehr laaaan­g werden. Eine Sandbank mit Kegelrobben hier, das Schiffswrack der Pallas dort, wenig Augenfutter unter viel aschgrauem Himmel. Klug, wer ein gutes Buch an Bord hat.

    Föhr begrüßt mich mit einem norddeutschen Tropfenregen. Sieht nicht schlimm aus, ist er aber. Dafür duftet Föhr nach Frühling. Die Insel liegt im Windschatten des mondänen Sylt und des Badeparadieses Amrum – und wird zu Unrecht unterschätzt. Wie die Nachbarn ist Föhr erst seit der Groten Mandrenke 1362, die Tausende Opfer forderte und Nordfrieslands Küste völlig umgestaltete, eine Insel. Davon spürt man an vielen Stellen nur wenig: Marschen, Grünland, Knicks, Felder. Föhr ist landwirtschaftlich geprägt. Insgesamt 16 Inseldörfer verteilen sich auf der fladenartig-runden Insel, deren Umrisse nicht zum Autoaufkleber taugen.

    Ohnehin ist man mit dem Fahrrad besser unterwegs. Zum Freundschaftspreis von 10 Euro darf ich beim „Deichgraf“ in Wyk den Drahtesel bis zum nächsten Morgen leihen und radele ins Friesendorf Oevenum. In Krögers Dörpskrog, einem reetgedeckten Landgasthof von 1713, kostet das sehr ordentliche Zimmer inklusive Frühstück nur 45 Euro. Und wenn die Sintflut vorbei ist, kann man von hier gut die Insel erkunden.

    Am Nachmittag zeigen sich einige Wolkenlücken. Mit dem norddeutschen Himmel geht es mir wie mit meinen Kindern, hellt er sich auf, kann man nicht lange böse sein. Im Nachbarort liegt ein für ein kleines Friesendorf spektakuläres Kunsthaus – das Museum der Westküste. Es ist eine überschaubare und beeindruckende Sammlung nordischer Künstler. Und schnell wird klar: Maler bevorzugen dunkle, dramatische Himmel, die blaue Sommerfrische reizt sie kaum. Was für ein Trost. Ich erlebe malerische Tage.

    Nur ein Katzensprung entfernt liegt – liebe Keitumer, ihr müsst nun tapfer sein – das schönste Dorf Nordfrieslands: Nieblum. Prächtige Friesenhäuser unter hohen Ulmen und Linden künden vom einstigen Reichtum der Insel. Im 17. und 18. Jahrhundert führen viele Inselfriesen als Seeleute oder Kapitäne auf Grönlandfahrt zur Walfischjagd.

    Ich passiere das Ernst-Schlee-Schullandheim, das sich heute in Trägerschaft des Gymnasiums Othmarschen befindet. Plötzlich fügen sich Erinnerungssplitter zu einem Bild zusammen. Hier bin ich einst gewesen, vor 28 Jahren auf Klassenfahrt. Der Bolzplatz, auf dem wir spielten, der Strand, an dem wir uns ins Wasser stürzten, der Kaufmann, bei dem wir heimlich Bier holten. Plötzlich übermannt das Gefühl, alt zu werden. Immerhin das Einzige, was alternativlos ist. Wer will schon jung sterben?

    Die Grabsteine auf dem Friedhof Nieblum sind große Erzähler, sie erzählen Geschichten vom Leben und spenden Trost den Überlebenden. „Der Tag, wenn einer stirbt, ist beßer als die Nacht, in welcher man aufs Meer der Welt hineingebracht. Wohl dem, der bey den Stürmen, bewahret ist vor Stranden, und in den stillen Port, der seligen kann landen“, steht auf einem Grabstein zu lesen. Ein Bummel über den Gottesacker lehrt Demut. Und predigt stumm: Mit dem Glauben geht auch der Trost.

    Aus der Kirche, nicht zu Unrecht Friesendom genannt, erklingt lebendige Musik. Das Schulorchester des Gymnasiums Blankenese probt für seinen Auftritt am heutigen Abend, Weber, Brahms, Schostakowitsch. Seit Jahren fahren die Blankeneser nach Nieblum. „Hier fühlen wir uns fast zu Hause“, sagt Dieter von Sachs, Leiter des Orchesters. Die Eisdiele, der Strand, St. Johannis. Alte Bekannte, die man immer gerne wieder trifft.

    Das Spektakuläre an Föhr ist das Unspektakuläre. Die Strände sind – obwohl sich der Sand rund 15 Kilometer von Wyk nach Utersum zieht, eher ostseeähnlich. Die Wirtshäuser sind noch Gasthäuser, die Orte noch Dörfer. Früh hat der Tourismus hier Fuß gefasst, schon 1842 verbrachte der dänische König Christian der VIII. den Sommer auf Föhr, doch der Fremdenverkehr ist nicht alles. „Diese Landschaft hat gar nichts Äußerliches, Lautes“, wunderte sich Christian Morgenstern 1905 auf Föhr. Daran hat sich 111 Jahre später wenig verändert.

    Aktuelle Ausgaben (Vortag: 404 Euro von 500): Therme 17,60, Kurbeitrag 3,50, Bier 2,80, Abendblatt 1,50, Bus und Fähre 22,60, Fahrrad 10, Zweites Frühstück 9, Verpflegung 24,70, Zimmer 45.

    Restbetrag: 257,30 Euro