Hamburg. Meselech Melkamu läuft mit ihrem Streckenrekord in eine neue Dimension, Anja Scherl zu den Olympischen Spielen in Rio. Dagegen verblasst sogar eine männliche Weltbestzeit

„Jubel doch mal!“, riefen die Fotografen, und weil Mourad Bekakcha Wünsche gern erfüllt, warf er sich in Pose, obwohl ihm eigentlich nicht danach war. „Die letzten zwei Kilometer fühlten sich so an, als würde man vom Wind am Trikot gezogen“, sagte der HSV-Läufer, „das wünsche ich wirklich keinem.“ 2:26:32 Stunden hatte er für den Haspa Marathon benötigt, das war persönliche Bestzeit und reichte auch dicke, um zum fünften Mal Hamburger Meister zu werden. Aber wohl nicht, um es ins Olympiateam seines Geburtslands Algerien zu schaffen.

Kurz nach ihm kam Mona Stockhecke ins Ziel, und was die neue Hamburger Meisterin über die letzten Minuten ihres Rennens zu erzählen hatte, klang so ganz anders: „Es war ein Kampf, aber es war ein überwältigendes Erlebnis. Diese Distanz ist einfach magisch, Emotionen pur.“ Mit ihrem Hamburger Rekord, 2:33:43 Stunden, war sie „überglücklich“, auch wenn er nicht zur Olympiateilnahme reichen wird.

Leid und Lust lagen bei Hamburgs großem Stadtlauf schon immer nahe beieinander. Diesmal aber waren die Gefühle klar verteilt: Es war ein Marathon der Frauen. Die stellten zwar auch bei der 31. Auflage nur knapp ein Viertel des Teilnehmerfelds. Aber sie besetzten diesmal die Hauptrollen.

In der ersten: Meselech Melkamu. Dass die Äthiopierin den Streckenrekord brechen könnte, hatte Marathonchef Frank Thaleiser noch am Sonntagmorgen nicht zu hoffen gewagt, als er die Wettervorhersage studierte: böiger, kalter Wind. Melkamu aber schien ihn kaum zu spüren oder besser: Ihre Tempomacher schirmten sie perfekt ab. In 2:21:54 Stunden unterbot Melkamu die alte Bestmarke ihrer Landsfrau Netsanet Abeyo um sagenhafte 2:18 Minuten.

Für Melkamu bedeutet das: Sie ist nun Fünfte der Weltrangliste und mit großer Wahrscheinlichkeit in Rio dabei. Für Thaleiser bedeutet das: Sein Rennen hat einen kräftigen Schub bekommen. „Über diesen Rekord wird weltweit berichtet, das bringt uns in der internationalen Wahrnehmung weiter“, freute sich der Rennleiter.

Viel fehlte nicht, und der Streckenrekord wäre auch bei den Männern gefallen. Auf der zweiten Streckenhälfte aber musste Tesfaye Abera dem hohen Anfangstempo Tribut zollen. Dennoch: Schneller als 2:06:58 Stunden waren nur vier Läufer in Hamburg. Selbst diese Topzeit könnte für den Weltjahresbesten (2:04:23 im Januar in Dubai) allerdings zu wenig sein, um vom äthiopischen Verband nominiert zu werden.

Es war eben der Tag der Frauen. In der zweiten Hauptrolle: Anja Scherl. Die Regensburgerin lief in 2:27:50 Stunden sensationell auf den dritten Platz – und zu den Olympischen Spielen. Bei ihrem ersten Hamburg-Start vor zwei Jahren, damals unter ihrem Mädchennamen Schneider, hatte Scherl für die 42,195 Kilometer noch mehr als 20 Minuten länger benötigt.

Scherl, 30, wusste die märchenhafte Steigerung zu erklären: „Ich habe im Winter zum ersten Mal ein zweiwöchiges Trainingslager eingelegt, außerdem werde ich bei Tempoläufen jetzt begleitet. Das hilft sehr.“ Für das Rennen in Hamburg hatte sie auf Unterstützung verzichtet, dann aber unverhofft gefunden: Patrick Weiler und Dominik Mages, zwei bayerische Landsleute, boten Scherl bis ins Ziel Geleitschutz.

An diesem Montag ist Scherl schon wieder in ihrem 40-Stunden-Job als Software-Entwicklerin gefordert – wobei sie sich ausnahmsweise einen Tag Heimarbeit genehmigt. Für Training bleibt ihr nur die Zeit zwischen 18 und 20 Uhr. Ob sie im Hinblick auf Rio die Arbeitszeit reduziert, will Scherl „in den nächsten Tagen mal schauen“.

Julian Flügel steht nicht vor dieser Frage, er ist mit seiner Dreiviertelstelle bei einem Gabelstaplerhersteller glücklich. In 2:17:10 Stunden war er wie im Vorjahr schnellster Deutscher, haderte aber mit den Umständen: „Der Wind war sehr widrig, und ich hatte Trainingsrückstand. So gesehen bin ich zufrieden.“ Flügel, der heute 30 Jahre alt wird, muss nun hoffen, dass ihm am kommenden Sonntag in Düsseldorf keiner mehr den dritten deutschen Olympiastartplatz abspenstig macht.

Wie gesagt: Die Frauen machten dieses Rennen. Mit einer Ausnahme: Werner Momsen stellte mit seinem Hamburger Hintermann Detlef Wutschik in 4:31:06 Stunden einen Weltrekord auf – für Puppen von mindestens fünf Kilogramm Gewicht. Die alte inoffizielle Bestmarke lag bei 4:46 Stunden.