Die evangelische Kirche und die Flüchtlingskrise: EKD-Ratsvorsitzender Heinrich Bedford-Strohm über den Wahlerfolg der AfD, den Optimismus der Kanzlerin und die geplanten Großunterkünfte für Migranten in der Hansestadt

Berndt Röttger

Heinrich Bedford-Strohm ist der höchste Repräsentant der 23 Millionen evangelischen Christen in Deutschland. Der EKD-Ratsvorsitzende und bayerische Landesbischof bezieht immer wieder öffentlich Stellung, wenn es um Gerechtigkeit und den Dialog mit dem Islam geht. Im Abendblatt-Interview rät der Theologieprofessor den demokratischen Parteien, nach dem Wahlsieg der AfD weiterhin entschlossen an einer europä­ischen Lösung der Flüchtlingskrise zu arbeiten.

Hamburger Abendblatt: Herr Ratsvorsitzender, warum haben so viele Menschen Angst vor Fremden?

Heinrich Bedford-Strohm: Ich glaube, man sollte statt von Angst eher von Unsicherheit sprechen. Meine Wahrnehmung ist, dass sich sehr viele Menschen für Fremde engagieren. Die Hilfsbereitschaft ist ungebrochen. Das beobachte ich in allen Teilen Deutschlands.

Woher kommt diese Unsicherheit?

Bedford-Strohm: Sie besteht darin, dass die politischen Lösungen so unklar sind. Es sind so viele Faktoren mitein­ander im Spiel, die niemand unter Kontrolle hat. Diese politische Sachlage erzeugt ein Gefühl von Unsicherheit. Die größte Sorge macht den Menschen einer EKD-Studie zufolge allerdings das Anwachsen des Rechtsradikalismus.

Ist die Furcht vor einer schleichenden Islamisierung in Deutschland begründet?

Bedford-Strohm: Diese Angst ist aus meiner Sicht nicht begründet. Schon der Begriff Islamisierung ist problematisch. Wenn damit gemeint ist, dass islamistische, irrationale, fundamentalistische Strömungen für die gesamte Religion des Islam stehen, dann muss man ganz deutlich sagen: Viele Muslime in Deutschland wollen hier einfach nur in Frieden mit ihren Mitmenschen leben.

Aber die Zahl der Muslime wächst!

Bedford-Strohm: Wenn wir in einem Land mit 80 Millionen Einwohnern mit rund vier Millionen Muslimen vielleicht noch ein bis zwei Millionen Muslime dazu bekommen, kann man nicht von einer Islamisierung sprechen. Das Verhältnis der Religionen darf nicht von Angst geprägt sein, wir müssen die Kräfte in den Religionen stärken, die sich für ein friedliches Miteinander einsetzen.

Die Moschee-Gemeinden erhalten Zulauf, aber die Bindung der Christen an die Kirche schwindet.

Bedford-Strohm: Für die lebendige, starke Kraft des Christentums spricht, wie viele Menschen aus ihrer christlichen Überzeugung heraus Hilfe für Flüchtlinge leisten. Das beeindruckt übrigens auch viele Muslime. Die Christen haben gezeigt, dass sie ihre Religion und das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe ernst nehmen.

Muslime nehmen ihren Glauben mindestens genauso ernst.

Bedford-Strohm: Wenn wir sehen, wie selbstverständlich Muslime beten, dann kann das ein Impuls sein, dass auch wir Christen uns darauf neu besinnen, was Gebet eigentlich für uns bedeutet. Wenn das Gespräch mit einer anderen Religion dazu beitragen kann, unsere eigene Religion neu zu entdecken, dann kann das eine ganz fruchtbare Folge des interreligiösen Dialogs sein.

Gerade bei rechtskonservativen Protestanten gibt es Ressentiments gegen die vielen Flüchtlinge. Was sagen Sie dazu?

Bedford-Strohm: Man muss unterscheiden zwischen Menschen, die rechte Hassparolen rufen und auch einen Teil der Anhänger rechtspopulistischer Vereinigungen wie Pegida und AfD ausmachen, und Menschen, die Fragen haben. Sie sind verunsichert und haben Sorge, dass eine größere Bedeutung des Islam eine Gefahr für unsere Kultur sein könnte. Mit diesen Menschen muss man ins Gespräch kommen.

Es gibt Muslime, die den Rechtsstaat nicht akzeptieren.

Bedford-Strohm: Wenn von Menschen, die sich auf den Islam berufen, Gewalt gegen Vertreter anderer Religionen ausgeübt wird, wenn Frauen sexuell belästigt werden, dann muss man entschieden dagegen vorgehen. Das gilt natürlich, egal, von wem solche Taten begangen werden. Der Rechtsstaat ist ein hohes Gut und die Basis für unser friedliches Zusammenleben. So sehen das im Übrigen auch die meisten Muslime.

Wie beurteilen Sie das Abschneiden der AfD bei den jüngsten Landtagswahlen?

Bedford-Strohm: Zunächst einmal bleibt doch richtig, dass die überragende Mehrheit der Deutschen Schutz suchenden Menschen auch weiterhin Hilfe zukommen lassen will. Millionen Deutsche engagieren sich für Flüchtlinge in unserem Land. Wahlen in Deutschland werden auch dann gewonnen, wenn man für eine humanitäre Flüchtlingspolitik eintritt.

Was sollten die demokratischen Parteien jetzt tun?

Bedford-Strohm: Sie sollten gemeinsam den Blick nach vorne richten. Eine europäische Lösung der Flüchtlingskrise, entschlossene Integrationspolitik in Deutschland sowie schnelle Asylverfahren, das ist in meinen Augen das beste Mittel gegen rechtspopulistische Stimmungsmache in unserem Land. Dass in der AfD hochproblematische Strömungen mit rechtsradikalem Gedankengut dabei sind, werden wir allerdings auch weiterhin beim Namen nennen.

Sind darunter auch ordinierte Pastoren?

Bedford-Strohm: Davon ist mir nichts bekannt.

Was hat die neue „Allianz für Weltoffenheit“, ein breites demokratisches Bündnis der Zivilgesellschaft, eigentlich schon bewirkt?

Bedford-Strohm: Sie ist gerade erst gegründet worden. Die zivilgesellschaftlichen Gruppen und Kirchen wollen damit zum Ausdruck bringen, dass Menschenwürde zur Grundorientierung unserer Gesellschaft gehört. Es gibt inzwischen rund 150 Unterstützer-Organisationen.

Das ist nicht viel.

Bedford-Strohm: Dahinter stehen große Organisationen und Institutionen wie die Kirchen, die Wohlfahrtsverbände, die Sportverbände, der DGB oder die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände mit ihren Mitgliedern. Das sind schätzungsweise insgesamt 60 Millionen Menschen in Deutschland.

Hamburg will Flüchtlinge in mehreren großen Unterkünften unterbringen mit 3000 Migranten. Ist das der richtige Weg?

Bedford-Strohm: Es gibt pragmatische Erfordernisse. Die Politik bemüht sich, in dieser schwierigen Situation Menschen so gut wie möglich unterzubringen. Wenn Migranten ankommen, ist es häufig so, dass zunächst Großunterkünfte bereitstehen müssen. Dann ist es an uns, als Bürgerinnen und Bürger mit diesen begrenzten Möglichkeiten so gut wie möglich umzugehen. Dezentrale Unterbringungen hängen von weiteren Kapazitäten vor Ort ab.

Wie bewerten Sie die kirchliche Flüchtlingsarbeit in Hamburg?

Bedford-Strohm: Von 120 evangelischen Gemeinden sind 85 aktiv in der Betreuung von Flüchtlingen. Das ist eine höchst beeindruckende Zahl. In allen evangelischen Landeskirchen sind es rund 120.000 Ehrenamtliche. Wir haben als evangelische Kirche im vergangenen Jahr 100 Millionen Euro zusätzlich für die bundesweite Flüchtlingsarbeit zur Verfügung gestellt.

Wie wird das Geld eingesetzt?

Bedford-Strohm: Damit werden zum Beispiel hauptamtliche Koordinatoren für das Ehrenamt bezahlt. Das Geld fließt auch in die professionelle Betreuung von Flüchtlingen. Im Übrigen hat mich sehr beeindruckt, wie hilfsbereit Hamburg mit den vielen Flüchtlingen gerade im vergangenen Jahr umgegangen ist.

Auch das Abendblatt war engagiert.

Bedford-Strohm: Sie hatten dazu aufgerufen, Sachspenden vorbeizubringen und eine Liste mit notwendigen Gegenständen veröffentlicht. Und ich habe gehört, dass es ein ungeheures Echo darauf gab.

Würde diese Hilfsbereitschaft heute wieder funktionieren?

Bedford-Strohm: Wenn die Menschen wissen, dass die Spenden wirklich gebraucht werden, sind sie bestimmt wieder mit dabei. Die Unsicherheiten haben nichts mit schwindender Hilfsbereitschaft gegenüber den konkreten Flüchtlingen zu tun, sondern damit, dass Europa in dieser Sache nicht an einem Strang zieht.

Ausgerechnet die Türkei wird nun zu einem entscheidenden Verhandlungspartner der EU.

Bedford-Strohm: Da gerät politisches Handeln in ethische Zielkonflikte. Die Verletzungen von Menschenrechten in der Türkei, die Einschränkung der Pressefreiheit und die fehlende Religionsfreiheit sind nicht hinzunehmen. Hier gibt es Fragen, die sich gerade im Blick auf einen EU-Beitritt der Türkei stellen. Gleichzeitig muss man anerkennen, dass die Türkei schon jetzt 2,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat.

Plädieren Sie für einen EU-Beitritt der Türkei?

Bedford-Strohm: Das hängt davon ab, ob die Türkei die notwendigen Kriterien hinreichend erfüllt, zum Beispiel Glaubens- und Pressefreiheit. Man kann jetzt nicht einen Pauschal-Deal machen – Hilfe für Flüchtlinge gegen EU-Beitritt, ohne dass diese anderen Fragen beantwortet sind.

Angela Merkel kämpft für eine gesamteuropäische Lösung. Wie bewerten Sie ihr Handeln?

Bedford-Strohm: Bei der Bundeskanzlerin ist immer wieder erkennbar, dass der Verantwortungshorizont über Deutschland hinausreicht. Das unterstütze ich ausdrücklich.

Wir schaffen das?

Bedford-Strohm: Wenn es uns gelingt, diese Kraft der Empathie aufrechtzuerhalten, dann werden wir in 20 Jahren sagen: Wir sind gestärkt aus dieser Situation herausgegangen.

Das klingt so positiv, als könnte Deutschland unbegrenzt Flüchtlinge aufnehmen.

Bedford-Strohm: Wir müssen nach Wegen suchen, um genügend Zeit zu haben, die Menschen zu integrieren. Deswegen ist es zu wünschen, dass weniger Flüchtlinge kommen. Deutschland kann die migrationspolitischen Probleme der Welt nicht im Alleingang lösen. Die abstrakte Forderung nach einer Obergrenze wird aber dem uns aufgegebenen ethischen Verantwortungshorizont nicht gerecht, weil sie das Problem einfach auf andere abwälzt.

Warum mischt sich die Kirche da gerade in die Politik ein?

Bedford-Strohm: Kirche muss sich nicht zu allem politisch äußern. Vor allem soll sie sich nicht parteipolitisch auf eine Seite schlagen. Sie hat aber die Verpflichtung, öffentlich Position zu beziehen, wenn ethische Grundorientierungen auf dem Spiel stehen. Es ist für mich absolut unvorstellbar, einen „christlichen Glauben“ zu pflegen, der keine Auswirkungen auf die Beziehung zum Nächsten hat. Gottes- und Nächstenliebe gehören zusammen. Wer fromm ist, muss auch politisch sein.