Hamburg. Ein Rückblick auf zwölf Monate, die uns in Hamburg noch bevorstehen? Einmal im Jahr, zu Silvester, ist das möglich. Eine Satire.

Januar

Bürgermeister Olaf Scholz verkündet angesichts der Flüchtlingskrise das neue PQ-6000-Programm: pro Quartal 6000 neue Wohnungen. Dazu solle noch im Januar das Wohnraum­schaffungsförderungsbeschleunigungsgesetz (WrSFBG) ins Parlament eingebracht werden. Nur so könne der Plan vom Olympischen Bauen (schneller, höher, breiter) verwirklicht werden.

Handelskammer-Präses Fritz Horst Melsheimer kündigt nach eingehender juristischer Prüfung an, nicht gegen das Urteil des Verwaltungs­gerichts vorzugehen, das das Kammer-Engagement gegen die Volksinitiative zum Rückkauf der Versorgungsnetze als rechtswidrig eingestuft hatte. Geklagt hatten die sogenannten Kammer-Rebellen („Die Kammer sind wir“). Der Präses müsse in seinen Äußerungen alle Meinungen innerhalb der Kammer berücksichtigen. Gleichwohl sagte Melsheimer, er wolle die Position – gegebenenfalls die Positionen – der Kammer auch in Zukunft „klar und deutlich“ artikulieren.

Die Gebrüder Braun treffen sich heimlich mit Alexander Otto, Michael Stich und einem New Yorker Guerilla-Marketing-Experten. Über 27 aufs Stadtgebiet verteilte Strohmänner soll eine Volksinitiative für Olympia 2028 in Hamburg gestartet werden.

Nachdem Wikileaks kurz vor dem Fifa-Kongress die geheimen Unterlagen der US-Anklagebehörde veröffentlicht hat, wird der einzige Saubermann der Fifa zum Präsidenten gewählt: Hans Bürkli, seit 2004 als Reinigungskraft hauptverantwortlich für das Foyer in der Züricher Fifa-Zentrale.

Februar

Die Grünen stimmen den Wohnungsbauplänen von Scholz zu, nachdem ihnen zugesichert wurde, dass in den nunmehr bebauten Naturschutzgebieten Hundeanleinpflicht, Sonntagsfahr- und Silvesterböllerverbot gelten. Außerdem werde es für jedes neue Baugebiet eine Inklusions-, Gender- und Integrationsbeauftragte geben.

Der Handelskammer-Präses bezeichnet die Wohnungsbaupläne des Senats als „möglicherweise richtig“. Es gebe aber auch „ernst zu nehmende Argumente“, die zu einer variierenden Meinung führen könnten.

Die 27 Köpfe zählende Volksinitiative „Jetzt alle aber erst recht“ („Ja aber“) strebt einen Volksentscheid über Olympia 2028 oder später an.

Die CSU fordert von allen Flüchtlingen ein Bekenntnis zu Deutschland und seinen Werten. Daher sollten sie verpflichtend mindestens dreimal wöchentlich Kartoffeln essen. „Integration fängt in der Küche an“, erklärt Immer-noch-nicht-Ministerpräsident Markus Söder.

März

In der Handelskammer bilden sich neue Gruppen: „Wir sind auch die Kammer“, denen die Kammerrebellen zu brav geworden sind, sowie die von den Alt-Präses Nikolaus Schües und Karl-Joachim Dreyer angeführten „Die Kammer waren wir“, auch Kammerilla genannt.

Olaf Scholz lehnt die neue Olympia-Volksinitiative ab, das Volk habe bereits 2015 entschieden. Warum er dabei einen Lachanfall erleidet – den ersten seines Lebens – bleibt rätselhaft.

Fifa-Präsident Bürkli verkündet, dass die Ex-Funktionäre 1,9 Milliarden Euro an Bestechungsgeldern der Fifa erstatten müssten. Damit und dank des neuen Hauptsponsors Vorwerk könnten die Eintrittspreise bei der nächsten WM auf maximal 14,90 Euro (für die teuerste Karte) reduziert werden.

April

Die ohnehin traditionell unter Minderwertigkeitsgefühlen leidende Handwerkskammer ruft ihre Mitglieder auf, oppositionelle Gruppen zu gründen, um medial wenigstens ein bisschen Aufmerksamkeit zu bekommen. Zunächst ohne Resonanz.

Die Olympia-Gegner werfen Olaf Scholz falsches Spiel vor. Seine Ablehnung der Olympia-Volksinitiative sei ein mieser Trick. Da jeder wisse, dass die Bürger bei Volksentscheiden grundsätzlich gegen den Senat entscheiden, sei sein Nein eine Finte.

Die Bauwirtschaft hat infolge der Hochkonjunktur 6000 Arbeitsplätze geschaffen. Da sie aber alle aus entfernten Regionen angeworben wurden und mit ihren Familien kommen, wird die Wohnungsnot in Hamburg dramatisch verschärft.

Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann lässt in den Flüchtlingsunterkünften sonntags Schweinshaxen mit Weißbier ausgeben. Wer die Einnahme verweigere, dürfe nicht mit dauerhafter Aufnahme rechnen.

Mai

Während die Auszubildendenvertreter der Handwerkskammer sich als „Die Kammer wir sind“ gegen das „Imperium“ organisieren, kursiert bei den Notaren ein Papier mit dem Titel „Die Kammer des Schreckens“. Allerdings bleibt unklar, ob es sich um eine Zustandsbeschreibung oder eine Oppositionsgruppe handelt.

Angesichts der Wohnungsnot diskutiert der Senat neue Lösungsansätze, die vor allem die Zahl der Single-Haushalte reduzieren soll. Unter dem Titel „Alleinsein ist unsozial“ soll beim nächsten SPD-Parteitag ein Leitpapier beschlossen werden.

Juni

Dank des Einsatzes von 5000 ebenso studentischen wie fast freiwilligen Helfern („wir bekommen nur eine Aufwandsentschädigung“) hat die Olympia-Initiative binnen einer Woche 106.000 Unterschriften gesammelt. Die Gebrüder Braun platzieren im Miniaturwunderland öffentlichkeitswirksam eine Gruppe NOlympia-Demonstranten neben dem Hauptbahnhof.

Handelskammer-Präses Melsheimer erklärt in einer Pressemitteilung, dass Olympische Spiele in Hamburg die Chance für eine positive wirtschaftliche Entwicklung bieten könnten, man dürfe aber nicht außer Acht lassen, dass negative Faktoren nicht ausgeschlossen werden könnten. „Wir sind die Kammer“, „Die Kammer waren wir“ und „Wir sind auch die Kammer“ kündigen Klagen gegen Melsheimer an, weil er sich zu eindeutig geäußert habe.

Die Denkmalbehörde stellt die Flüchtlingsunterkunft Schnacken­burgallee unter Denkmalschutz. Es sei ein „ebenso zeittypisches wie stadtbildprägendes Ensemble“. Der geplante Abbau von Zelten und die Errichtung von Holzhäusern werden untersagt.

Juli

Alle Bürgerschaftsfraktionen außer der Linken votieren vehement gegen Olympische Spiele.

Die Strafverteidiger Uwe Meffert, Andreas Beuth und Gerhard Strate gründen nach einem Essen im „Corleone“ gegen 2.48 Uhr die „Linksanwälte in der Rechtsanwaltskammer“. Beuth findet das sogar am nächsten Tag noch lustig.

Das IOC kündigt an, das vom nordkoreanischen Biochemiker Kim un Kim entwickelte Wahrheitsserum einzusetzen, um Athleten bei den Olympischen Spielen in Rio über Doping zu befragen.

Melsheimer begrüßt die Klagen gegen sich, weil sie zu „Klarheit“ führen werden. Die bisher fraktionslosen Kammermitglieder protestieren scharf gegen diese Äußerung, weil ihre Meinung nicht durch die Äußerung abgebildet werde. Sie kündigen die Gründung der ESaa-Gruppe an („Entschiedenes Sowohl als auch“).

August

Die Linke votiert bei ihrem Parteitag einstimmig für einen „dialektischen Olympia-Beschluss“, in dem man sich aus taktischen Gründen für Olympia in Hamburg ausspricht.

Die bayerische Staatsregierung modifiziert nach massiven Protesten kirchlicher Gruppen sowie des Schafzüchterverbandes den sogenannten Schweinshaxen-Erlass. Als Schweinshaxe im Sinne des Erlasses gelte nun auch Lammkeule. Alkoholfreies Bier sei zugelassen, Knödel blieben aber obligatorisch.

17.348 Athleten sagen „verletzungsbedingt“ ihre Teilnahme an den Olympischen Spielen kurzfristig ab. Das siebenköpfige deutsche Aufgebot wird vom reaktivierten Hamburger Diskuswerfer Rolf Danneberg – Olympiasieger 1984 – angeführt. Mit seiner bei den Pinneberger Seniorenkreismeisterschaften erzielten Jahresbestleistung von 21,76 Meter werden ihm gute Medaillenchancen eingeräumt.

September

Die SPD beschließt auf ihrem Parteitag ein umfangreiches Anti-Single-Wohnungsprogramm. Es beinhaltet eine Imagekampagne zur Frühverheiratung, Strafsteuern (ab 50 Quadratmeter Wohnraum pro Person) sowie die Gründung einer städtischen Gratis-Internet-Partnerbörse, für die „Fördern und Wohnen“ verantwortlich sein soll. Der Antrag des Kreisverbands Mitte, Zwangshochzeiten vorübergehend zu tolerieren, wird mit knapper Mehrheit abgelehnt.

Auf Initiative des Vorsitzenden Frank-Ulrich Montgomery gründet sich innerhalb der Ärztekammer die Gruppe „Wir sind zufrieden“. Montgomery erklärt, es sei ein Gebot demokratischen Anstands, mit der neuen Gruppierung zusammenzuarbeiten.

Im olympischen Medaillenspiegel rangiert Deutschland gleichauf mit Russland, China, den USA und Großbritannien (alle Null) – Danneberg hatte drei Fehlversuche. Vorne liegt Samoa, es folgen Belize, Swasiland und der erstmals teilnehmende Vatikan.

Oktober

Auch dank der Facebook-Unterstützergruppen „Wir sind die Stadt“, „Scholz kann uns mal“ und „Flüchtlinge trainieren für Olympia“ kann die Olympia-Initiative die notwendigen Unterschriften für einen Volksentscheid binnen dreier Tage sammeln. Der Volksentscheid wird für den 27. November angesetzt.

SPD, CDU, Grüne und FDP beschließen, ein 180-seitiges Pamphlet gegen Olympische Spiele den Briefwahlunterlagen beizufügen, in dem vor allem vor den finanziellen Risiken und der drohenden Gentrifizierung gewarnt wird. Die Linke verzichtet auf eine Stellungnahme. Laut einer Umfrage im Auftrag des Hamburger Abendblatts sind 84 Prozent der Hamburger für Olympia.

Die CSU beschließt zur Förderung der Integration, die Kastelruther Spatzen und Helene Fischer in allen Flüchtlingsunterkünften auftreten zu lassen.

November

Den Klagen gegen Melsheimer wird vom Verwaltungsgericht stattgegeben. Der Präses dürfe sich zu politischen Fragen nur in einer Weise äußern, die keine innerhalb der Kammer vertretene Meinung ausschließe, er müsse ausgewogen argumentieren. Der Präses tritt daraufhin vor die Presse und erklärt, dass alle ihm „sowohl den Buckel runterrutschen als auch mal kreuzweise“ könnten.

Beim Volksentscheid über Olympia gibt es 88,4 Prozent Ja-Stimmen. Allerdings waren viele der Abstimmung fern geblieben, weil sie die Sache für gelaufen hielten – das erforderliche Quorum wird um 436 Stimmen verfehlt.

Dezember

Hamburg hat 23.000 neue Wohnungen gebaut. 76.000 Singles sind nun Ex-Singles und haben 38.000 Wohnungen gekündigt. 6000 nunmehr arbeitslose Bauarbeiter haben die Stadt wieder verlassen. In der Mönckebergstraße lungern erste Makler herum und fragen Passanten: „Willste mal ne Wohnung?“

Nach einer erfolgreichen Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte muss die Kastel­ruther-Spatzen/Helene-Fischer-Tournee abgebrochen werden.

Melsheimer wird auf einer Sondersitzung des Kammer-Parlaments mit 94,6 Prozent im Amt bestätigt.