Heute Entscheidung. Die zwei Kandidaten kommen aus China und Kasachstan. In zwei Jahren könnte Hamburg zur Abstimmung stehen.

Ein heftiger Monsunregen hat am Donnerstagnachmittag die Temperaturen in Kuala Lumpur auf feuchtwarme, aber angenehme 24 Grad Celsius abgekühlt. Wenn jedoch heute Mittag das Internationale Olympische Komitee (IOC) in Malaysias Hauptstadt den Ausrichter der Winterspiele 2022 wählt, soll das Thermometer wieder auf die hier in Äquatornähe üblichen 35 Grad im Schatten klettern. Das passt irgendwie. Es hat fast schon Tradition, dass die vielen Herren und die immer noch wenigen Damen der Ringe über den Gastgeber ihrer Winterspiele gern in tropischen Regionen abstimmen lassen.

Als vor acht Jahren im ähnlich heißen Tagungsort Guatemala City die Olympischen Winterspiele 2014 vergeben wurden, bauten die Russen vor dem Kongresszentrum eine künstliche Eislaufbahn. Geld spielte damals keine Rolle und vor allem: Man durfte zeigen, dass man welches hat. Ob diese Tatsache oder doch eher andere Wohltaten nachhaltigen Eindruck bei den IOC-Mitgliedern machten, konnte und sollte nie ganz geklärt werden. Sotschi jedenfalls, der einladende Badeort am Schwarzen Meer, erhielt im zweiten Wahlgang knapp den Zuschlag.

Es war der bisher letzte Anfall von Größenwahn des IOC und einer seiner Bewerberstädte – ein Kommunikations-GAU und der mögliche finale Auslöser der Reformagenda 2020, die der im September 2013 neu gewählte deutsche Präsident Thomas Bach anschob. Für seine umwälzenden Ideen erhielt Bach, 61, im Dezember vergangenen Jahres in Monte Carlo die einstimmige Unterstützung der IOC-Mitgliede in allen 40 Punkten.

Kern des Paradigmenwechsels und Konsequenz aus den Sünden der Vergangenheit: Künftig sollen Ausrichter Olympische und Paralympische Spiele in ihr lokales und regionales Umfeld einpassen, Kosten reduzieren und ein städtebauliches Erbe hinterlassen, das die Bevölkerung noch Jahrzehnte danach nutzen kann. Das neue Credo: Olympia muss den Städten und ihren Menschen wieder dienen und darf ihnen keine Ruinen mehr hinterlassen.

Almaty, früher Alma-Ata, die kasachische 1,8-Millionen-Stadt, Wintersportzentrum der einstigen Sowjetunion, und die chinesische Hauptstadt Peking, die beiden verbliebenen Bewerber für die Winterspiele 2022, glauben, diese Anforderungen zu erfüllen. In den Hochglanzbroschüren, die beide Delegationen in diesen Tagen in den Fünfsternehotels in Kuala Lumpur verteilen, ist viel von der gewissenhaften Umsetzung der Agenda 2020 die Rede, von Nachhaltigkeit, Umweltschutz und Einsparungen. Bach spricht gewohnt diplomatisch von „zwei starken Konzepten“, glücklich mit den höchst ungleichen Kandidaten scheinen jedoch nur wenige der 88 IOC-Mitglieder, die am Freitag im Convention Center gegenüber den beiden 452 Meter hohen Petronas-Türmen abstimmen werden. Die oft gehörte Meinung: „Da müssen wir jetzt durch!“

Peking gilt heute als klarer Favorit. Es wäre die erste Stadt, die nach Sommerspielen (2008) auch Winterspiele ausrichtet, zusammen mit der rund 200 Kilometer entfernten Skiregion Zhangjiakou. Ein Hochgeschwindigkeitszug soll die beiden Zentren in 50 Minuten Fahrtzeit verbinden, in der Zeit der Spiele für alle umsonst. Was der Bau der Strecke kosten könnte, darüber schweigen die Chinesen lieber. Er sei ohnehin schon lange als Verbindung in die Mongolei geplant, meint ein hochrangiges Delegationsmitglied. Und was kostet das Projekt denn nun? „Der Zug ist sowieso geplant.“

Almaty dagegen würde kompakte Spiele feiern mit allen Wettkampfstätten im Umkreis von maximal 30 Kilometern zum olympischen Dorf. Bis auf wenige Ausnahmen sind alle Arenen bereits vorhanden oder werden für die Universiade 2017, die Weltspiele der Studierenden, schon gebaut. So viel Nähe gab es bei Winterspielen lange nicht mehr. Und so viel natürlichen Schnee ebenfalls nicht.

In Peking und der weiteren Umgebung käme die gefrorene weiße Pracht wohl aus Kanonen, auch wenn die Chinesen für Kuala Lumpur ein spezielles Buch aufgelegt und überall sichtbar positioniert haben: „Snow in Bejing“. Auf 156 Seiten und mehr als 200 Fotos wird darin der Nachweis eines Wintermärchens erbracht. Schön anzusehen ist der Bildband aber allemal.­

Dass ausgerechnet zwei Städte in Kuala Lumpur antreten, in deren diktatorisch regierten Ländern weltweit tätige Organisationen wie Human Wrights Watch massive Menschenrechtsverletzungen und zum Teil unwürdige Arbeits­bedingungen beklagen, macht die Wahl zur Qual und droht Bachs neues IOC in seinen vielfältigen Bemühungen zurückzuwerfen, die Akzeptanz Olympischer Spiele auch dort, vornehmlich in westlichen Demokratien, wieder zu erhöhen, wo diese in den vergangenen Jahren immer öfter abhanden gekommen ist.

Chinesen haben die Angewohnheit, Kritik dieser Art einfach wegzulächeln. Yao Ming, 34, ist da anders. Der ehemalige Basketball-Superstar der nordamerikanischen Profiliga NBA, 2,29 Meter groß, ist in Kuala Lumpur das unübersehbare Gesicht der Pekinger Kampa­gne. „Für die Frage nach den Menschenrechten gibt es keine perfekte Antwort“, sagt er. Es gebe kein Land auf der Welt, „das keine Probleme damit hat“. Rom sei auch nicht an einem Tag gebaut worden, fügt Ming freundlich hinzu, „geben Sie uns bitte Zeit, wir arbeiten hart dran“ – nach den in den vergangenen Jahren zunehmenden Verhaftungen von Regimekritikern und deren Anwälten aber offenbar in die falsche Richtung. Die Hoffnungen des IOC, die Sommerspiele 2008 in Peking hätten ein Umdenken bewirkt, haben sich nicht erfüllt, obwohl es am Anfang Anzeichen dafür gab.

Dass China, die Werkbank der Welt, wahrscheinlich eine zweite Olympiachance erhält, hat es trotz ­Börsenbaisse seiner wirtschaftlichen Potenz zu verdanken. Ein neuer Markt für den Wintersport, für 300 Millionen Chinesen in dieser Region – mit dieser Perspektive kann Kasachstan, das größte Binnenland der Welt, mit seinen 18 Millionen Einwohnern nicht annähernd konkurrieren. Die Agenda 2020 wäre dann Makulatur – wobei sie erst in Kraft trat, als das Bewerbungsverfahren weit fortgeschritten war.

Nicht zuletzt das Misstrauen gegenüber sportlichen Weltorganisationen wie besonders dem korrupten Fußballverband Fifa, aber auch dem IOC waren ausschlaggebend, dass die Münchner Bewerbung für ebendiese Winterspiele 2022 im November 2013 in einem Referendum keine Mehrheit in der eigenen Bevölkerung fand. Andernfalls wäre die bayerische Landeshauptstadt diesmal als hoher Favorit ins Rennen gegangen; allein schon deshalb, weil 2018 in Pyeongchang Winterspiele bereits in Asien stattfinden.

München hatte im Juli 2013 in Durban (Südafrika) die Abstimmung gegen die Südkoreaner im ersten Wahlgang klar verloren – trotz des nachweislich besseren Konzeptes. „Viele IOC-Mitglieder treffen ihre Entscheidung aus dem Bauch heraus, manche aus persönlichen Stimmungslagen“, sagt das langjährige IOC-Mitglied Walther Tröger, 85. Für den ehemaligen Weltklasse-Schwimmer Mark Spitz, 65, sind es die Ehefrauen, die entscheiden: „Die wollen dorthin, wo sie am besten einkaufen können.“ Spitz gewann in München 1972 sieben Goldmedaillen.

Auch in Krakau (Polen), der Region Graubünden (Schweiz), Lwiw (Ukraine) und Stockholm (Schweden) waren Winterspiele den Menschen zuletzt nicht mehrheitlich zu vermitteln. In Oslo wiederum kassierte das norwegische Parlament das positive Abstimmungsergebnis. Begründung: zu hohe Kosten, zu viele Sonderwünsche des IOC. Das war alles vor der Agenda. Es mag diese Ausgangslage gewesen sein, die Bach vor drei Tagen in Kuala Lumpur ungewohnt gereizt und tadelnd auf die Ankündigung Bostons reagieren ließ, sich nicht für die Sommerspiele 2024 bewerben zu wollen. Schließlich sollen in zwei Jahren Olympische Spiele in Lima (Peru) erstmals nach den Reformkriterien vergeben werden, und da würde es dem IOC-Präsidenten gefallen, wenn aus allen Regionen der Welt Bewerbungen kämen, gerade auch aus den USA. Bislang trauen sich nur Europäer die neue Form der Spiele zu: Budapest, Paris, Rom und Hamburg. „Die Behauptung, dass demokratische Staaten kein Interesse mehr an der Ausrichtung Olympischer Spiele hätten, wäre damit entgegen anderslautender Behauptungen widerlegt“, sagt Bach.

Nur wenige IOC-Mitglieder kennen Hamburg

Olympische Spiele haben nach dem Ersten Weltkrieg gerade fünfmal in totalitären Staaten stattgefunden, davon zweimal in (Nazi-)Deutschland: 1936 in Berlin (Sommer) und Garmisch-Partenkirchen (Winter), 1980 in Moskau, 1984 in Sarajevo (Winterspiele im damaligen Jugoslawien) und 2008 in Peking. Interesse aus Saudi-Arabien wehrte Bach jüngst ab, solange Frauen dort nicht in die Sportstadien dürften, gäbe es keine Verhandlungsbasis. Auch Doha (Katar) scheiterte bei dem Versuch, vom IOC in den engeren Bewerberkreis aufgenommen zu werden. Die Fifa hatte weniger Bedenken. Die Fußball-WM 2022 findet in dem Wüsten-Emirat statt.

Alfons Hörmann, 54, der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), Michael Vesper, 63, der Vorstandsvorsitzende des DOSB, und Bernhard Schwank, 54, stellvertretender Geschäftsführer der Hamburger Bewerbungsgesellschaft, sind in Kuala Lumpur, um die Lage zu sondieren, wie weit in den Köpfen und Herzen der IOC-Mitglieder der Reformprozess angekommen ist. „Wir werden das Abstimmungsergebnis genau analysieren, um daraus Konsequenzen für die Hamburger Bewerbung zu ziehen“, sagt Vesper in der Lobby des Hotels Oriental.

Hier herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, jeder, der ins benachbarte Convention Center will, muss dieses Hotel durchqueren. Wer die drei Deutschen sieht, fragt schon mal nach Hamburg. „Die Neugierde ist groß“, sagt Vesper. Sie hat ihren Grund: Nur wenige IOC-Mitglieder kennen Hamburg. „Die Olympiakampagne hat daran schon einiges geändert“, weiß Hörmann, „eine bessere Werbung hat die Stadt noch nie erfahren.“ Ob nun Peking oder Almaty besser für Hamburgs Ambitionen wäre, darauf wollen sich die drei nicht festlegen. Hörmann sagt dann: „Peking ist schlechter fürs Referendum am 29. November, vielleicht aber besser für die Wahl 2017.“