Stade. Der 19-jährige Ahmed aus Neu Wulmstorf wurde verurteilt, weil er die elfjährige Aaya ermordet haben soll. Die Familie glaubt an seine Unschuld.

Es ist die Wut, die Namik A. auf den Beinen hält, als er mit geröteten Augen aus dem Gerichtssaal tritt. Gerade hat er seinen Sohn eine halbe Stunde lang getröstet, hat ihn gehalten, umarmt. Ahmed war zusammengebrochen, kurz nachdem das Landgericht Stade ihn an diesem 17. Dezember 2014 zu sieben Jahren Haft verurteilt hatte. Wegen Totschlags. Nach Überzeugung des Gerichts hat der 19-Jährige seine kleine Schwester Aaya erwürgt.

Aaya heißt auf Deutsch Wunder. Sie wurde nur elf Jahre alt. Die Polizei fand ihre Leiche in einem Müllsack im Gartenhaus der Familie. Laut Gericht stammen Opfer und Täter aus einer Familie. Das Ausmaß der Tragödie ist selbst für Außenstehende kaum zu erfassen. Wie gehen die Eltern damit um?

„Niemals“, sagt der Vater, der jetzt auf dem Sofa im Wohnzimmer eines Hamburger Mietshauses sitzt, in das die Familie von Neu Wulmstorf umgezogen ist. „Niemals kann er das getan haben. Allein von der Persönlichkeitsstruktur her kann er es nicht getan haben.“ Der Vater ist akkurat gekleidet – schwarze Anzughose, in der Brusttasche des Hemdes klemmt ein Kugelschreiber, randlose Brille. Während er erzählt, stemmt er den rechten Fuß gegen das Tischbein, als ob er Halt suchte. Neben ihm seine Frau, sie trägt ein Chanel-Kopftuch, darunter einen silbernen Haarreif.

Namik* A., hält das Urteil für einen Justizirrtum und will, dass der Prozess neu aufgerollt wird. Seine Anwältin hat Revision beantragt. Im Prozess haben der angeklagte Ahmed und seine Eltern geschwiegen. Der Vater begründet das mit dem Verhalten der Polizei in den ersten Stunden nach dem Verschwinden der Tochter. „Die haben jedes Wort gegen uns verwandt“, sagt Namik A. Im Abendblatt äußert er sich das erste Mal öffentlich über die Tragödie.

Die Eltern haben jahrelang für den Erfolg geschuftet, er ist Ingenieur, sie Ärztin

Namik A. wollte immer alles richtig machen. Als sein Sohn Ahmed A., sein erstes Kind, zur Welt kam, wälzte er Bücher über islamische und westliche Erziehungsideale. Namik A. ist Palästinenser und lebt seit 27 Jahren in Deutschland. Er wollte seinem Sohn alles vermitteln: alles, was in der deutschen und was in der palästinensischen Kultur zählt. Er hat ihm beigebracht, nicht zu lügen, sich zu entschuldigen, wenn er einen Fehler begangen hat, seine Eltern respektvoll zu behandeln, islamische Gebote zu achten. „Ich habe mir fundierte Kenntnisse angeeignet, damit mein Sohn aufgeklärt, kultiviert und integriert aufwächst“, sagt der Vater. Sein Sohn sollte es einmal leichter haben als er und seine Frau. Sie haben jahrelang geschuftet, um dorthin zu kommen, wo sie jetzt sind. Er, der Ingenieur, sie, die Ärztin.

Was die Eltern nicht verstehen, ist, wie alles zusammenpassen soll: Ahmed, der große Bruder, der zu Aaya einen guten Draht hatte, wie Zeugen im Prozess bestätigten, der seine sieben Jahre jüngere Schwester nach einer schweren Operation vier Wochen lang zu Hause betreute. Ahmed, der Klassensprecher, der Streitschlichter, der mehr als 350 Freunde auf Facebook hatte. Der Junge, der immer ehrlich und direkt, ruhig und nett, nie gewalttätig gewesen sei. Dieser Ahmed soll ein Totschläger sein? Dieser Ahmed soll – davon ist das Gericht überzeugt – minutenlang auf Aayas Oberkörper gekniet und mit Händen und einem Tuch massive Gewalt auf ihren Oberkörper und Hals ausgeübt haben?

Nach Überzeugung der Kammer hat sich am 21. März 2014 Folgendes zugetragen: Ahmed habe um kurz nach 16 Uhr seinem Vater vorgetäuscht, dass Aaya bei einer Freundin in Neugraben Hausaufgaben mache. Doch der Vater traf Aaya dort nicht an. Später habe Ahmed eine Entführung seiner Schwester vorgetäuscht. Noch in der Nacht fanden die Beamten die Leiche des Mädchens in einem Müllsack im Gartenhaus der Familie. Kurz darauf geriet Ahmed ins Visier der Ermittler.

Die Spuren: Finger- und Handflächenabdrücke von Ahmed am und im Müllsack, in dem die Leiche steckte. Faserspuren von ihm am Müllsack. DNA-Spuren von Ahmed an Aayas Shirt. Das Antidepressivum Trimipramin, das sich Ahmed zuvor besorgt hatte, im Blut der Leiche. Schließlich Aayas Handy, das die Region um den Funkmast von Neu Wulmstorf nicht verlassen hatte. Aber viele Fragen blieben. Weder konnte das Gericht klären, wo, womit, wann genau, unter welchen Umständen Aaya getötet wurde. Das Motiv? Nicht geklärt. „Bestimmte Dinge lassen sich nicht klären“, sagte Richter Berend Appelkamp bei der Urteilsverkündung. „Das ändert nichts daran, dass der Angeklagte der Täter ist.“

Wer ist dieser Ahmed? Das Bild, das die Zuhörer im Gericht erhalten, ist das eines jungen Mannes, gefangen zwischen zwei Kulturen, der unter seinem erfolgreichen und streng religiösen Vater leidet. Richter Appelkamp stellt Ahmed als jemanden dar, der ausgehen und seine Freizeit mit seiner Verlobten verbringen will. Der Vater aber verlangt, dass der Sohn regelmäßig die Moschee besucht, dass er das Gymnasium besucht, dass er zusätzlich auch das arabische Abitur an der König-Fahd-Akademie in Bonn ablegt. Den westlichen Lebensstil seines Sohnes lehnt der Vater nach Überzeugung des Richters ab. Die nicht-muslimische Verlobte seines Sohnes sowieso. Laut Gericht soll der Vater Ahmed vor die Wahl gestellt haben: entweder die Familie oder die Verlobte. Die Differenzen werden unerträglich. Der Junge zieht aus, nimmt Drogen, kehrt aber wieder nach Hause zurück.

Als Richter Appelkamp im Dezember 2014 das Urteil begründet, sitzt Namik A. mit verschränkten Armen still auf seinem Platz im Stader Landgericht. Jetzt, in seinem Wohnzimmer überschlägt sich seine Stimme fast, als er sagt: „Ich wurde als der radikal Religiöse, als der Böse dargestellt, der die Familie und den Sohn terrorisiert. Das haben wir nicht verdient.“

Das Bild, das die Familie von sich zeichnet, unterscheidet sich deutlich von dem des Gerichts. Es ist das Bild einer gebildeten und integrierten Familie. Zum Wochenende gehöre, dass einer aus der Familie einen Vortrag hält, zumeist über islamische oder soziale Werte. Man unternehme viel gemeinsam: Ausflüge ins Phantasialand, und den Serengeti-Park, Tauchurlaube im ägyptischen Hurghada, mehrwöchige Aufenthalte in Gaza, der ehemaligen Heimat der Eltern. Vater und Sohn gingen gemeinsam zum Kung-Fu, traten einem Fitness-Club bei.

Das Haus der Familie ist eines, in dem vieles glitzert. Tischdecke aus goldenem Garn, goldene Kannen in der Vitrine. In der Einrichtung spiegeln sich beruflicher Erfolg und sozialer Aufstieg. So soll es Ahmed auch einmal gehen. Am besten, er geht auf das Gymnasium, finden die Eltern. Statt einer Ausbildung favorisiert der Vater ein Studium. „Hauptsache, aus ihm wird etwas Wichtiges.“ Doch die Schwierigkeiten beginnen mit der Pubertät, in der die Eltern ihren Sohn wie fremdgesteuert erleben. Ahmed verweigert sich, die Schule ist ihm gleich. Er will gar nichts, nur noch Party machen. Die Eltern schieben es auf falsche Freunde. „Er war wie verwandelt. Wie von außen gestört“, sagt die Mutter. „Bitte schalte doch einer die Störung aus“, habe sie immer gedacht.

Die Beziehung zur Verlobten blockieren sie aus Angst, dass ihr Sohn schon mit 18 Jahren eine Ehe eingeht und unter Umständen kurz darauf Kinder haben möchte. Und das ohne Ausbildung, ohne Studium. Es war den Eltern schlicht zu früh. Dass die Verlobte keine Muslimin sei, habe keine Rolle gespielt, sagt der Vater. „Sie hatten kein Konzept für ein tragfähiges Leben. Mein Sohn verhielt sich da manchmal wie ein Kind. Als Eltern müssen wir doch unseren Sohn vor Fehlern schützen. Dafür sind wir da.“

Dreimal haut Ahmed ab und zieht zu seinen neuen Freunden. Das erste Mal holen die Eltern ihn noch zurück. „Wir sind nicht im Paradies“, sagt der Vater zu ihm. „Nur da gibt es Vergnügen ohne Arbeit. Hier gibt es Arbeit und ein bisschen Vergnügen.“ Als er wieder auszieht, lassen sie ihn – in der Hoffnung, dass er von allein zurückkehrt. Sein Zimmer rühren sie nicht an. Er kommt zurück. Sie lachen, sie umarmen sich. „Ich lebe falsch“, habe Ahmed gesagt, so der Vater. Es scheint, als sei der Sohn geläutert. Er nimmt eine Arbeit im Callcenter auf, nimmt Fahrunterricht und steht kurz vor der theoretischen Führerscheinprüfung. Bald will er eine Ausbildung im Callcenter beginnen. Im Gegenzug machen seine Eltern es ihm so leicht wie möglich. Sie geben ihm Geld, damit er Freunde ins Restaurant einladen kann. Damit er nicht auf dumme Gedanken kommt. „Alles war gut“, sagt die Mutter.

Die Eltern erklären die DNA-Spuren mit dem engen Körperkontakt

Bis zum 21. März. Zum ersten Mal erzählen die Eltern und die Schwester, wie sie diesen Tag erlebt haben: Die Mutter hört Aayas Stimme das letzte Mal, als sie mit ihr um 14.52 Uhr telefoniert. Zu der Zeit ist sie mit ihrem Mann, der ältesten und jüngsten Tochter nach dem Freitagsgebet in der Moschee auf dem Weg nach Hause. Alles scheint wie immer. „Sie aß und war fröhlich“, so die Mutter. Ahmed ist mit Aaya allein zu Haus. Als die Familie zu Hause eintrudelt, erklärt Ahmed, Aaya sei kurz zu einer kranken Freundin gegangen, um ihr einen Hausaufgabenzettel vorbeizubringen. „Er war ganz ruhig, wie immer.“

Später geht er ins Zimmer der älteren Schwester und spielt gelangweilt mit ihrer Kosmetik. Dann setzt er sich zur Mutter und hilft ihr, einen Salat zuzubereiten. Der Vater sitzt am Esstisch, bereitet Unterlagen für eine Konferenz vor und erhält dann WhatsApp-Nachrichten von Aayas Handy. Ahmed steht neben ihm, als sie eintrudeln. Der Vater fährt nach Neugraben, um Aaya abzuholen, die angegebene Adresse existiert aber nicht, Aaya beantwortet auch all seine Telefonanrufe nicht. Ihm wird mulmig, er ruft seine Frau an, kehrt zurück. Schließlich bekommen sie die Drohnachricht über Aayas Entführung. „Da stand Ahmed neben mir.“ Darauf verständigt der Vater die Polizei. „Wie soll Ahmed die Entführung vorgetäuscht haben und die Nachrichten abgesetzt haben, wenn er die ganze Zeit in unserer Nähe war?“, fragt der Vater. „Wo sollte er das Handy versteckt haben?“

Aber haben nicht die Spuren Ahmed als Täter überführt? Die Eltern erklären die DNA-Spuren mit dem engen Körperkontakt, der in der Familie üblich ist. Umarmungen und Küsse gehören zum Begrüßungsritual. Auch jetzt, während der Vater erzählt, schmiegt sich die vierjährige Tochter an den Hals des Vaters, spielt mit seinen Hemdknöpfen.

Ahmeds Finger und Handabdrücke am Müllsack? Sie rührten vom Umzug zur Verlobten, da der Sohn den Sack benutzt habe, um seine Klamotten zu transportieren, so Mutter und Vater. Das Antidepressivum in Aayas Blut, das Ahmed zuvor von einem Freund besorgt hatte? Auch das lassen die Eltern nicht gelten. „Es ist nicht bewiesen, dass Ahmed es verwendet hat“, sagt der Vater, weil die Polizei weder die Verpackung noch Spuren des Wirkstoffs gefunden hat.

Nur muss die Frage erlaubt sein, ob sich die Eltern etwas vormachen. Zumal Richter Appelkamp so etwas andeutet. Mit den Worten „Nur das Zulassen der Wahrheit kann Halt geben“ richtet er sich bei der Urteilsverkündung an die Eltern. Es ist die normalste Reaktion der Welt, dass Mutter und Vater alles unternehmen, um ihren Sohn vor dem Gefängnis zu bewahren. Doch Namik A. sagt: „Jeder hat eine solche Strafe verdient, der meiner Tochter das Leben genommen hat, ganz gleich, ob derjenige mein Sohn ist oder nicht. Wenn wir nicht überzeugt wären, dass er es nicht war, hätten wir nicht einen Euro in die Gerichtsverhandlung investiert.“

Der Vater glaubt an ein organisiertes Verbrechen, mindestens an einen Justizirrtum. Er macht der Polizei schwere Vorwürfe. Sie habe nur in Richtung Familie ermittelt. „Wieso wurde Aayas Handy nicht sofort geortet, als es noch angeschaltet war? Warum wurde erst vier Tage nach dem Verbrechen nach Aayas Handy gesucht?“, fragt der Vater. „In der Akte steht nicht ein Wort, dass einmal in eine andere Richtung ermittelt wurde.“

Aayas Handy ist noch ein ganz eigenes Kapitel in der rätselhaften Geschichte. Die Polizei fand das Telefon vier Tage nach dem Verbrechen auf dem Spielplatz in der Nähe des damaligen Wohnortes der Familie an der Theodor-Heuss-Straße in Neu Wulmstorf, eingewickelt in eine Zeitung vom 22. März. Die SIM-Karte lag zerknickt im Gebüsch, der Akku ein paar Meter entfernt am Brachvogelweg.

Der Vater klappt seinen Laptop auf und öffnet das Dokument, auf dem er den Weg nachgezeichnet hat, den sein Sohn hätte zurücklegen müssen, um das Handy zu entsorgen. Auf einer digitalen Karte hat der Vater das Haus des Opfers eingetragen. Außerdem: Auffindeort Akku, Auffindeort SIM-Karte. Der Vater ist selbst die Strecke abgelaufen und ist auf 700 Meter gekommen, für die er fünf bis sechs Minuten gebraucht hat. „Mein Sohn kam am 21. März, um 22.30 Uhr in Untersuchungshaft. Wie sollte er das Telefon dahin gebracht haben?“, fragt er. Das Dokument liest sich wie eine nüchterne Analyse, typisch für einen Ingenieur, der es gewohnt ist, Dinge auf rationale Weise zu erklären. Aus diesem Dokument spricht erst recht die Verzweiflung des Vaters, der mit allen Mitteln versucht zu beweisen, dass sein Sohn nicht der Täter sein kann.

Noch immer können die Eltern nicht glauben, dass Aaya nicht mehr unter ihnen ist. Nur wenn sie den Friedhof besuchen, wird es zur traurigen Wahrheit. Der Vater ist aufgewühlt, während er spricht. Für ihn war Aaya nicht. Sie ist. Er ballt die Fäuste. Manchmal muss er das Wohnzimmer verlassen, um seine Tränen zu verbergen. „Wir wollen den Täter haben. Unser Sohn ist es nicht“, sagen sie. Offenbar glauben noch viele andere an die Unschuld von Ahmed. Die Facebook-Seite „Unschuldiger Ahmed muss sieben Jahre in Haft“ hat fast 600 Freunde.

Die Anwältin Annette Voges rechnet in den nächsten Tagen mit dem schriftlichen Urteil. Erst dann kann sie die Erfolgsaussichten der eingelegten Revision beurteilen. Als „merkwürdig“ bezeichnet sie die mündliche Begründung des Gerichts. Jetzt wartet sie gespannt auf die schriftliche Version.

* Name geändert