Sie kamen mit Gitarren, nicht mit Panzern. Wie die Band Scorpions die Hymne zum Mauerfall schrieb.

Wir Deutschen sind jetzt das glücklichste Volk auf der Welt", ruft der Berliner Bürgermeister Momper ins Mikrofon. Weinende Menschen fallen einander in die Arme. Allerorten knallen Sektkorken, Hunderttausende strömen durch die Straßen, feiern bis in die frühen Morgenstunden. Ost- und Westberliner erklimmen die Mauer und werfen jubelnd ihre Arme in die Luft. Grenzer geben die bürokratische Ordnung auf, öffnen die Tore und werden von jungen Mädchen geküsst.

Über all diesen Erinnerungen schwebt eine Melodie:

Die Hymne des Mauerfalls. Das Wende-Lied, das die Bilder im kollektiven Gedächtnis einer ganzen Nation begleitet. "Wind of Change", der Welthit der deutschen Rockband Scorpions, wurde bis heute weltweit über 14 Millionen Mal verkauft und gehört zur Wiedervereinigung wie einst der Bohnenkaffee ins Päckchen "nach drüben". Wem "Wind of Change" in den Ohren säuselt, dem kriecht eine Gänsehaut über den Körper. Sogar junge Leute, selbst gerade so alt wie die deutsche Einheit, glauben, "the magic of the moment", zumindest ansatzweise, nachfühlen zu können.

Magische Momente, die dieses Lied inspirierten, gab es viele. Seit dem Herbst 1988 erhoben die Menschen in Ost- und Westeuropa gleichermaßen ihre Stimme gegen die Teilung ihres Kontinents. Der Wandel lag in der Luft.

Aber entgegen unseren Assoziationen begleitete "Wind of Change" die stürmischen Ereignisse im November 1989 nicht, denn veröffentlicht wurde die Rockballade erst 1990 auf dem Album "Crazy World". 1991 wurde sie erfolgreichste Single des Jahres, führte elf europäische Hitlisten an, war in insgesamt 78 Ländern in den Charts.

Auch die Vermutung, die glorreiche Nacht die besungen wird, sei die Nacht des Mauerfalls, ist falsch.

"Wind of Change" wurde bereits im September 1989 geschrieben, als noch niemand damit rechnete, dass sich der Eiserne Vorhang tatsächlich so bald öffnen würde. Es ist eine Sommernacht im August 1989, von der Sänger, Songwriter und Komponist der Scorpions, Klaus Meine, in dem Welthit erzählt: "Wir spielten auf dem mittlerweile legendären ,Moscow Music Peace Festival'. An einem der Abende sind alle gemeinsam - deutsche, russische, amerikanische Musiker, Journalisten und auch Mitglieder der Roten Armee - in einem Boot auf dem Fluss Moskva zum Gorki Park gefahren. Das war die Vision: Die ganze Welt in einem Boot, alle sprechen die gleiche Sprache - Musik."

Überhaupt hatten die Scorpions damals, am 12. und 13. August 1989, als sie im Moskauer Olympia-Stadion vor 260 000 begeisterten Fans auftraten, das Gefühl, die Welt verändere sich vor ihren Augen: "Mitglieder der Roten Armee waren als Sicherheitspersonal bei dem Konzert, aber sie warfen ihre Mützen in die Luft und wurden eins mit dem Publikum. Das alte System brach auf. Nur ein Jahr zuvor, bei unseren Konzerten in Leningrad, war das ,Big Brother is Watching You'-Gefühl allgegenwärtig. Wir waren auf Schritt und Tritt vom sowjetischen Geheimdienst umgeben."

Auch andere westdeutsche Musiker haben die europäische Umbruchphase im Nachhinein, Anfang der 90er-Jahre, klangvoll thematisiert.

Östlich des Eisernen Vorhangs dagegen spielte schon vor der Wende die Musik des Wandels. Nur die Revolution in der ehemaligen DDR sei eine sehr unmusikalische gewesen, sagt Ulrich Mählert von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Die dort geschriebenen Lieder, zum Beispiel von "Silly" oder "Herbst in Peking" formulierten zwar unterschwellige Systemkritik, seien in ihrer Bedeutung aber nicht vergleichbar mit Titeln aus anderen osteuropäischen Ländern, die teils in einer langen Tradition des Widerstandes und des Unabhängigkeitskampfes standen.

In den baltischen Staaten spricht man gar von der "Singenden Revolution". "Gesang und Musik waren dort stark in den Traditionen verwurzelt, und die Sängerfeste waren besonders in der Zeit des Sowjet-Kommunismus ein Ort der nationalen Identität und Unabhängigkeit", erklärt Politikwissenschaftler Mählert. Auch im restlichen Osteuropa hat Musik den Widerstand der Menschen bestärkt. "Wenn 100 000 Menschen auf einem Platz stehen und eine Sängerin ein Lied anstimmt, das 20 Jahre lang verboten war, das aber trotzdem alle kennen und mitsingen, dann hat das natürlich eine starke emotionale Wirkung und mit Sicherheit eine gewisse Stimulanz, die die Leute nach vorne treibt. Die Schlagzeile ,Friedliche Revolution in Osteuropa war Ergebnis aufwühlender Popmusik' wäre aber gänzlich falsch", meint Mählert, so romantisch dürfe man nicht denken. Dennoch müsse man anerkennen, dass der Auftritt einer westdeutschen Band wie der Scorpions an einem Ort, an dem sich viele Menschen noch an den Einmarsch der Deutschen in die Sowjetunion 1941 erinnern, auch eine politische und eine Botschafterfunktion gehabt hat.

Klaus Meine sagt es kurz: "Unsere Eltern kamen mit Panzern, wir kamen mit Gitarren!"