Viele von uns, die sich morgens in die U-Bahn schwingen, locker einen Sitzplatz ergattern, das Hamburger Abendblatt oder ein Buch hervorholen und ein paar Minuten später in der Nähe des Büros aussteigen, nennen sich Pendler.

Mal müssen sie die Ausdünstungen ihres Nebenmannes ertragen, mal plärrt die falsche Musik aus Kopfhörerstöpseln, mal warten sie ein paar Minuten auf den verspäteten Zug. Geschenkt! Was das Wort "pendeln" wirklich bedeuten kann, erdulden jene Menschen aus Mecklenburg-Vorpommern, die wir in einem Regionalexpress zwischen Rostock und Hamburg kennengelernt haben, in vollen Zügen. Es sind sicher weniger als jene "40 Wagen westwärts", die Burt Lancaster im Western-Klassiker von 1965 kommandierte. Aber die Szenerie an den Bahnhöfen mutet phasenweise tatsächlich wie ein Treck gen Westen an. Diesmal locken keine freien Parzellen und kein Goldrausch in Kalifornien - es geht schlicht um Arbeit. In ihrem Heimatort "hast du nur die Wahl: Entweder du arbeitest bei Aldi oder im Lidl", erzählt eine Mecklenburgerin. Die Jobs liegen im Westen. Dafür nehmen besonders junge Frauen einiges auf sich, und sei es eine Zweieinhalb-Stunden-Tortur in vollen Zügen. Der Literat Otto Julius Bierbaum mag es vor hundert Jahren vorausgeahnt haben, als er in einem Pamphlet die Eisenbahn kritisierte: "Jede Fahrt auf der Eisenbahn ist ein Gefangenentransport ..."

Wir empfehlen Ihnen in dieser Ausgabe noch zwei fotografische Leckerbissen. Herlinde Koelbl zeigt in Berlin ihre sehenswerten Langzeitstudien. Und Reto und Dieter Klar haben sich kurz vor der 20-Jahr-Feier der deutschen Einheit auf die Suche nach ganz besonderen Orten in diesem Lande begeben - Zwillingspaare in Ost und West; Städte, die nur den Namen gemeinsam haben.

Auch das ist, wie die aufwendige Fahrt zur Arbeit im Westen, ein Stück Deutschland im 21. Jahrhundert.

Ihre Journal-Redaktion