Vor 525 Jahren, am 10. November 1483, wurde er in Eisleben geboren. Martin Luther, der große Reformator. Der sich später aufmachte, die Welt zu verändern. Barbara Möller hat nachgeschaut, was in seiner Geburtsstadt heute noch von Luther zu finden ist.

Es war kalt in Eisleben, als Hans Luder seinen kurz vor Mitternacht geborenen Sohn Martin am 11. November 1483 die wenigen Meter durch die Lange Gasse zur Pfarrkirche St. Petri Pauli hinübertrug, um ihn taufen zu lassen. Im Gewölbe unter dem Turm, denn das Kirchenschiff stand ja noch nicht. Für den Säugling, der dreimal mit Weihwasser übergossen wurde - vorsorglich hatte man eine Handvoll Salz ins Taufwasser geworfen, damit es nicht gefror -, war es der erste rabiate Überlebenstest.

Am kommenden Dienstag soll wieder getauft werden. 525 Jahre nach jenem bedeutungsvollen Tag. In mehr als 200 Kirchen auf allen Kontinenten und natürlich auch in Eisleben, über dem alten Sandsteinbecken, das inzwischen mit der schönen Inschrift "Rudera babitisterii quo tinctus est b. Martinus Lutherus" versehen ist. 17 Täuflinge sind angemeldet, Pfarrer Moore steckt schon tief in den Vorbereitungen, sogar Bischof Noack hat sich angesagt. Die Bürgermeisterin schaut besorgt in den grauen Himmel, murmelt etwas von den Wittenbergern, die die besseren Termine für sich reserviert hätten, was zweifellos auf den Sommer anspielt, und seufzt dann: "Wir haben die Geburt, die Taufe, und wir haben ein beschissenes Datum." An solch sprachlicher Unverblümtheit hätte Luther bestimmt seine Freude gehabt. Jutta Fischer regiert Eisleben seit April 2006. So erfrischend resolut, wie sie vorher das Rechnungsprüfungsamt geleitet hat.

"Haben Sie einen Hinweis darauf gesehen, dass Eisleben zum Weltkulturerbe gehört, als Sie angekommen sind?", will die 55-Jährige von uns wissen. Leider nicht, denn wir haben mit unglaublichen Baustellen und Umleitungen gekämpft. "Sehen Sie!", ruft Frau Fischer ihrer Kulturamtsleiterin triumphierend zu und macht sich eine Notiz, dass die Feuerwehr mit der Drehleiter kommen und am Rathaus noch schnell was "anbammeln" soll. Luther ist für Eisleben eine feste Wirtschaftsgröße. Von vergleichbarer Bedeutung ist für das 23 488-Einwohner-Städtchen sonst nur noch die Klemme AG mit ihren "Frozen Bakery Products" und 932 Angestellten.

100 000 Touristen sind im vergangenen Jahr in Eisleben gewesen. Und deshalb sucht man gerade nach einem neuen Investor, obwohl man bereits 250 Gästebetten anbieten kann. Die Lutherstädte müssten jetzt an einem Strang ziehen, sagt Jutta Fischer. Und dass die Zusammenarbeit mit den Wittenbergern schon jetzt sehr gut sei. Ein kleines Zögern deutet an, dass die Zusammenarbeit mit Erfurt, wo der große Reformator studierte, oder Eisenach, wo er - auf der Wartburg - das Neue Testament aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzte, noch ein bisschen besser werden könnte. Immerhin gibt es seit März diesen Jahres den "Lutherweg", eine 410-Kilometer-Rundtour, auf der man von Eisleben über Halle an der Saale, Kemberg, Wittenberg, Wörlitz, Köthen, Bernburg und Wettin zurück nach Eisleben pilgern kann. Luther immer fest im Blick, oft auch seinen Freund Lucas Cranach, der ja nicht nur die "Ketzer" mit seinen sublimen Porträts adelte, sondern auch den gutmütigen Landesfürsten Friedrich und Luthers Widersacher Kaiser Karl V.

"Ein ökumenisches Weltereignis" sei Martin Luther, sagt die Bürgermeisterin diplomatisch, die den Ablauf der Jahre bis zum großen Reformations-fest im Jahr 2017 (500 Jahre Thesenanschlag) nicht durch etwaige Kränkungen gefährdet sehen will. Zumal sich die Katholische Kirche bereits besorgt geäußert hat. Zum Beispiel hat der Magdeburger Bischof Feige ja öffentlich gefragt, ob man nun bis 2017 mit einer "Jubel- und Profilierungsfeier des Protestantismus" rechnen müsse. Und sein Regensburger Kollege Müller hat sogar vor einem "Geniekult" gewarnt. Solche Bedenklichkeiten mögen den einen oder anderen Protestanten angesichts der aktuelleren Papst-Auftritte vielleicht ein bisschen wundern, aber offiziell gibt sich die Evangelische Kirche verständnisvoll. Die "vertiefte Beschäftigung" mit Luther mache eine Jubelfeier unmöglich, hat der EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber seinen katholischen Amtsbrüdern versichert. Und der für die Kirchenprovinz Sachsen zuständige evangelische Bischof Axel Noack fügt hinzu: "Wir müssen aufpassen, dass uns nicht der Tourismus alles bestimmt. Wir wollen zwar, dass Luther popularisiert wird, aber wir wollen keinen Luther-Kult."

Mit Verlaub: Von "Luther-Kult" oder "Geniekult" ist man in Eisleben meilenweit entfernt. Die Reklameanstrengungen gehen hier gerade mal so weit, dass Meike Ehrwerth es gewagt hat, ihr kleines Cafe am Markt "Luther's Süßes-Stübchen" zu nennen. Oder dass Hartmut Junkel in seinem Schaufenster einen "Lutherschuh" zwischen Stiefeln und Sandalen aufgestellt hat. Ein großes schwarzes Ding mit Schnalle, wie es vielleicht der späte Luther trug, aber bestimmt nicht der junge Augustinermönch, der im November 1510 im Auftrag seines Erfurter Konvents zu Fuß nach Rom aufbrach. (Wo er die "Verderbnis" der Kirche mit eigenen Augen sah, was die Katholische Kirche später teuer zu stehen kam und wovon noch zu sprechen sein wird.) In Eisleben bittet die "Lutherschenke" in der Lutherstraße bescheiden "an Luthers Tafel", aber das ist ja nichts im Vergleich zu Weimar, wo man quasi nichts mehr kaufen kann, wo nicht "Goethe" draufsteht. Oder verglichen mit Bayreuth, wo man in "Tannhäuser"-Zimmern wohnen, "Tristan"-Menüs bestellen und "Walküre"-Porzellan kaufen kann. Wo die Straßen nicht nur nach den grandiosen Opern des Meisters, sondern auch noch nach seinen Kindern und Kindeskindern benannt werden.

Apropos Goethe: Der hat irgendwann zu seinem Eckermann gesagt, Martin Luther habe "die Finsternis der Pfaffen" geerbt. He, möchte man hinzufügen, der Mann hat das Licht angeknipst! Danach war es aus mit dem Mittelalter! Danach hatte man freie Sicht auf alles, was Rom lieber unter dem Scheffel gehalten hätte. Zum Beispiel auf die Vetternwirtschaft der Päpste. Auf ihre höchst einträgliche Praxis, geistliche Ämter zu verkaufen. Auf ihr, vorsichtig formuliert, etwas unmoralisches Privatleben. 1511 ist Martin Luther aus Rom zurückgekehrt, wo er empört mit angesehen hatte, wie sich Papst Julius II. "als ein Abgott mit unerhörter Pracht" in den Straßen herumtragen ließ, "obwohl er stark und gesund ist"! Das sollte ihm später beim Schreiben wieder einfallen.

1512 machte man ihn, er war noch keine dreißig, zum Theologieprofessor an der neuen Universität von Wittenberg. Der Augustinerorden ordnete ihn ab in das kümmerliche Nest an der Elbe, um dem sparsamen Landesherrn einen Gefallen zu tun. Wo man, wie der Rektor deprimiert zu sagen pflegte, "wie auf einem Schindanger" saß. Wo die anderen Doctores dem Mönch einen unterkühlten Empfang bereiteten.

Nun, Luther hat seinen Kollegen schnell Feuer unter den Stühlen gemacht. Schon bald hatte der junge Professor einen Ruf wie Donnerhall. Er berief sich auf Paulus und stellte damit alle anderen Autoritäten infrage. Er war nicht mehr bereit hinzunehmen, dass ausgerechnet im verderbten Rom über Gewissenfragen das letzte Wort gesprochen wurde.

Bald strömten die Studenten aus dem In- und Ausland nach Wittenberg, um Martin Luther zu erleben. Selbst die Kollegen setzten sich in den Hörsaal, um ihm zuzuhören. Kurfürst Friedrich war begeistert. Sein Rektor blickte bereits etwas weiter in die Zukunft. "Dieser Mönch", meinte er, "wird eine neue Lehre aufbringen."

Der Rest ist, wie man zu sagen pflegt, Geschichte. Am 31. Oktober 1517 schlug Martin Luther (er hatte seinen Namen gerade gräzisiert) seine 95 Thesen ans Hauptportal der Wittenberger Schlosskirche, das der Universität als Schwarzes Brett diente. Er tat es, "weil alle Bischöfe und Doctores still schwiegen, und niemand der Katze die Schelle umbinden wollte", wie er rückblickend schrieb. Der Text lief "in schier vierzehn Tagen durch ganz Deutschland, denn alle Welt klagte über den Ablass".

Der Ablass, vorher nur ein teures Ärgernis, wurde zum Politikum, der 31. Oktober 1517 zum Gründungstag der protestantischen Kirchen. Martin Luther wurde zum Sprecher einer Nation, die es noch nicht gab.

In Wittenberg wird man 2017 den Weltveränderer Martin Luther feiern. Im September hat man dort bereits den Beginn der "Luther-Dekade" ausgerufen. Ein Kuratorium gibt es auch. Geleitet wird es von Wolfgang Huber, ihm zur Seite sitzen die bischöflichen Brüder der reformatorischen Kernlande Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt, deren Ministerpräsidenten, der Kulturstaatsminister und sogar der Bundesinnenminister. Der sagt, Jubiläen wie der bevorstehende 500. Jahrestag der Reformation seien eine "nicht ungefährliche Sache", weil sie zum Jubeln verleiten würden, obwohl es angesichts der schrumpfenden Kirchengemeinden doch eigentlich gar keinen Grund zum Jubeln gebe.

Bischof Noack betrachtet das etwas anders. Er sagt, die Kirchenprovinz Sachsen sei durchaus noch christlich geprägt. "Die Leute sind ja keine Atheisten. Denen ist die Kirche zu DDR-Zeiten nur einfach abgewöhnt worden. Die sagen: 'Die Kirche soll offen stehen, wenn ich sie brauche, und es mir nicht übel nehmen, wenn ich sonst nicht komme.' Dass es hier die meisten Kirchen, die schönsten Dome und in manchen Gegenden die wenigsten Christen gibt, ist natürlich eine große Verantwortung, die uns der liebe Gott da auferlegt hat." Wenn man Axel Noack fragt, was er an Martin Luther am meisten bewundert, dann sagt er: "Das Gottvertrauen! Wie einer sich mit Gottvertrauen so in die Nesseln setzen konnte!"

Besser kann man es nicht sagen. Von Rom gebannt und auf dem Reichstag für vogelfrei erklärt, hat Martin Luther auf seine Zeitgenossen geradezu gelöst gewirkt. Nachdem er in Worms seine berühmtesten Worte gesprochen hatte: "Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir, Amen!" Alle Zipperlein waren plötzlich wie weggeblasen. Von Kurfürst Friedrich zu seinem eigenen Schutz entführt und auf der Wartburg festgesetzt, übersetzte Luther "Das neue Testament Deutsch" in nur elf Wochen. Als das Buch, das den Deutschen ihre Sprache gab, im September 1522 erstmals gedruckt vorlag, war er längst wieder in Wittenberg.

In der Stube seines alten Augustinerklosters, in der noch der alte muffige Strohsack lag. Luther predigte und publizierte und blieb unbehelligt. Flüchtlinge fanden sich ein. Prediger, Mönche. Eines Tages, zu Ostern 1523, wurden neun entlaufene Nonnen bei Luther abgeladen.

Eine aus diesem "jämmerlich Völklein" hat der weltberühmte Mann im Juni 1525 geheiratet: Katharina von Bora. Schön war sie nicht, und arm war sie auch. Beides hat den Doktor Luther nicht gestört, der sie sein "Liebchen", seinen "Morgenstern" nannte. Oder "Frau Käthe". Oder "Predigerin, Bräuerin, Gärtnerin und was sie mehr sein kann". Die Ehe, die diese beiden führten, hat danach als Vorbild für alle evangelischen Pfarrhäuser gedient. (Eine Kopie des schlichten Silberrings mit dem blauen Stein, den Luther seiner Käthe damals an den Finger steckte, bevor Johannes Bugenhagen den Segen sprach, kann man heute für 58 Euro in Luthers Geburtshaus erwerben.)

Dass der entlaufene Mönch eine entlaufene Nonne heiratete, hat nicht nur in Rom, sondern auch ganz allgemein aufreizend gewirkt. In Luthers Familie hingegen war man beglückt. Der Sohn, den der Vater einst vor seinem inneren Auge als glanzvollen Juristen gesehen und der ihn dann so tief enttäuscht hatte, gab ein festliches Hochzeitsessen. Der Magistrat stiftete eine Tonne Einbecker Bier, der Kurfürst steuerte einiges Wildbret bei, die Universität schenkte einen Silberbecher, der Kurfürst das alte Kloster. "Da", schrieb Martin Luther später bewegt, "nahm mich mein Vater zu Gnaden an." Da sei er für die Eltern endlich wieder "lieber Sohn" geworden.

Martin Luther hat kein Geheimnis daraus gemacht, dass er sich an die veränderten Lebensumstände erst gewöhnen musste. "Im ersten Jahre des Ehestandes", meinte er rückblickend, "hat einer seltsame Gedanken. Wenn er bei Tisch sitzt, denkt er: Sieh, vorher warst du allein, jetzt selbander. Im Bett, wenn er erwacht, sieht er ein paar Zöpfe, die er früher nicht sah." Dass seine Käthe so gerne redete, nachdem sie im Kloster so lange hatte schweigen müssen, ging ihm anfangs auch auf die Nerven. Aber ohne ihre Fürsorge - Katharina von Bora baute eine Badestube ein, zog Gemüse an, züchtete Schweine, braute Bier und gebar ihrem "Herrn Doktor" zwischendurch auch noch sechs Kinder - hätte Luther wohl nie sein für die damalige Zeit enorm hohes Alter von 62 Jahren erreicht. Luther litt unter Nierensteinen und Gichtschüben und starb in den frühen Morgenstunden des 18. Februar 1546 an Herzversagen. In Eisleben.

Ein Zufall? Vielleicht auch nicht.

Fest steht, dass er sich von seinen "lieben Landesherren" gern als Schiedsrichter anstellen ließ, als es in der kurfürstlichen Familie mal wieder krachte. Heimweh nach dem Ort seiner Kindheit bewog ihn im Januar gegen alle Warnungen, die ungemütliche Reise anzutreten. Luther geriet in einen eisigen Wintersturm, das Übersetzen über die Hochwasser führende Saale wurde zu einem lebensgefährlichen Unternehmen. In Eisleben machte man es ihm so gemütlich wie möglich. Und es gelang ihm tatsächlich, zwischen den Streithähnen zu vermitteln: Am 17. Februar wurden die "Friedensverträge" unterzeichnet. Anschließend feierten die Eislebener ein Fest, das mit einer nächtlichen Schlittenfahrt endete. Als das fröhliche Geläut verklang, ließ man den Leibarzt des Kurfürsten und den Pfarrer kommen. Martin Luther, dem das Sprechen nun schwerfiel, ließ seinem Schöpfer sein "Seelichen" befohlen sein. Dann war es vorbei.

In Eisleben steht also nicht nur das Geburtshaus Martin Luthers, sondern auch sein Sterbehaus. Beide Häuser gehören seit 1996 als "Lutherstätten" zum Unesco-Weltkulturerbe. Außerdem gibt es in Eisleben auch noch die St. Andreaskirche, in der Martin Luther seine vier letzten Predigten gehalten hat, und St. Annen. Das kleine Renaissancekirchlein auf dem Berg, dem ein Kloster mit fünf Mönchszellen angeschlossen war, die die Wissenschaft gerade erst wiederentdeckt hat. Das Kloster hat Luther, der damals Distriktvikar war, 1515 geweiht, und bei Gelegenheit hat er dort auch übernachtet. Aber wohl nicht in einer der zugigen Zellen auf dem Dachboden, sondern in der gemütlicheren Stube darunter.

Die ist jetzt Norbert Niebuhrs Wohnzimmer. Vor dem hat hier ein Organist gehaust, davor ein Pfarrer. Und alle haben auf dem Dachboden gelagert, was sie unten nicht mehr gebrauchen konnten. Niebuhr, Dozent an der Eislebener Altenpflegeschule, hat Äpfel, Skier, Zeitungen und Gartenmöbel hinaufgetragen. Ausziehen will er nicht. Aber noch ist ja auch unklar, was mit den Räumen geschehen soll. Erst mal wird das Dach repariert. Die Denkmalschützer sind auch schon da gewesen. Gerade haben sie oben etwas Putz von der Wand gekratzt und im Labor festgestellt, dass der tatsächlich noch aus der Luther-Zeit stammt.

Die Eislebener haben das natürlich immer gewusst. Die haben's nur nicht an die große Glocke gehängt. Die leben - Jubiläen hin oder her - eben ganz unaufgeregt mit ihrem Martin Luther.