Immer mehr Jugendliche werden kriminell. Gewalt ist ein großes Thema bei den 14- bis 18-Jährigen. Was lässt Jungen und Mädchen auf die schiefe Bahn geraten, und wie bekommt man sie wieder davon weg? Volkert Ruhe war selbst lange Zeit im Gefängnis und hat dort eine Lösung gefunden, die auch anderen helfen soll. Er gründete einen Verein - und kümmert sich, bevor es zu spät ist.

Zehn Jahre ist es jetzt her, dass das Leben von Volkert Ruhe wieder einen Sinn bekommen hat. Damals saß der Hamburger seine Strafe im Gefängnis in Fuhlsbüttel ab. Er sagt nicht wie viele andere Hamburger Santa Fu, dafür hat er dort zu viel Zeit verbracht. Wegen Drogenhandels. "Ich hatte keine Zukunftsperspektive, wusste nicht, was ich machen soll", sagt der heute 53-Jährige. Landmaschinenmechaniker hatte er ursprünglich gelernt, aber geklappt hatte das nicht so richtig. Vieles andere auch nicht. Und dann war er abgerutscht, dealte mit Drogen, wurde erwischt, eingelocht.

Im Gefängnis dann kam er gemeinsam mit anderen Gefangenen auf die Idee, aus der eigenen Misere etwas Positives zu machen. Ruhe schlug der Gefängnisleitung vor, Jugendliche mit Gefangenen zusammenzubringen. Sein Ziel: den Insassen eine Aufgabe und den Jugendlichen Einblicke in den Gefängnisalltag zu geben, sie für das Thema Kriminalität zu sensibilisieren. 1998 gab es ein großes Treffen mit vielen Fachkräften und Politikern, und nach einer Erprobungsphase nahm der Verein "Gefangene helfen Jugendlichen" die Arbeit auf. Bis 2002 arbeitete Ruhe aus dem Gefängnis heraus an dem Projekt. "Das hat mich aufgerichtet und mir neuen Mut zum Leben gegeben", sagt er.

Seit 2005 ist der Verein Träger der Jugendhilfe, finanziert sich heute zu 90 Prozent aus Spenden und zu zehn Prozent aus staatlichen Geldern. Mittlerweile setzen viele Schulen auf das Konzept der Gewaltprävention. Volkert Ruhe betreut dabei Klassen mit verhaltensauffälligen Jugendlichen, aber auch solchen, die schon mal straffällig geworden sind, zum Beispiel durch Diebstahl und Körperverletzung. "Ich mache ihnen klar, dass das sogenannte Abziehen kein Kavaliersdelikt ist." In Zehnergruppen besuchen sie Gefangene in Fuhlsbüttel, sprechen mit ihnen, werden auch mal für drei Minuten in eine Zelle gesperrt, bekommen mit, dass Knast nicht so cool ist, wie es vielleicht in Fernsehserien erscheint. "Sie merken schnell: Hier beginnt eine andere Welt", sagt Ruhe. Eine Welt, zu der sie nicht gehören möchten. Auch die Schüler der achten und neunten Klasse an der Schule Griesstraße in Hamm haben den Gefängnisbesuch hinter sich gebracht. Verbindungslehrerin Kaja Rosenau hält es für richtig, die Schüler mit der Wirklichkeit und möglichen Konsequenzen ihres Handelns zu konfrontieren. "Es war wichtig, dass das Treffen direkt im Gefängnis und nicht in der Schule stattgefunden hat", sagt die Lehrerin. "So war es viel authentischer. Der Besuch hat die Schüler echt beeindruckt und auch abgeschreckt. Als die Häftlinge nach den Gesprächen wieder in ihre Zellen geführt wurden, haben viele Schüler gesagt 'Die Armen. Das möchte ich nicht erleben.' Empathie, das kommt ja bei Jugendlichen sonst nicht so häufig vor." Das ebenfalls vom Verein organisierte Thaiboxen, an dem einige Jungs anschließend teilnehmen, gehört zur Gewaltprävention dazu. Es soll Aggressionen abbauen, aber auch helfen, Grenzen anzuerkennen, die eigenen, aber auch die der anderen.

Respekt ist ein Schlüsselwort. Für viele Jugendliche ist er nicht selbstverständlich. Weil sie ihn nie verspürt haben, weil ihnen in ihren Familien oder in ihren Cliquen kein Respekt zuteil wird. Dass Jugendkriminalität zunimmt, erklärt Volkert Ruhe mit einem Mangel an geeigneten Auffangmöglichkeiten - gerade für die, bei denen es nicht so gut läuft. "Viele Jugendliche, vor allem die mit Migrationshintergrund, erfahren Gewalt schon zu Hause, wissen nicht, wo sie mit ihren Problemen hinsollen, lungern herum, haben keine Perspektive, heute noch weniger, als früher zu meiner Zeit." Die Schule Griesstraße hat 54 unterschiedliche Nationalitäten. Direktorin Antje Zingel ist stolz darauf, dass Türken, Afghanen, Rumänen und Deutsche zusammen lernen und Sport treiben: "Die Jungs sind ja auch nicht ganz einfach. Aber hier sind sie richtig locker und witzig." In der Tat wird beim Boxen viel gefeixt und gelacht, ständiges Handyklingeln stört aber den Unterricht. Trainer Ivan Kirr ist genervt, verbietet das Telefonieren. Während des Trainings - aufwärmen, auf der Stelle laufen, Deckung halten und Liegestützen - kommen die Jungs ganz schön aus der Puste. Danach wird an den Bratzen geübt: schlagen, ausweichen, decken. Man merkt förmlich, wie die Jungs sich abreagieren, angestaute Wut herausboxen. "Die meisten Schüler gehen euphorisch aus der Stunde raus", sagt der Trainer. Ruhe weiß, dass sein Projekt nicht die Welt verändern wird und es bei Weitem nicht ausreicht, die Probleme zu lösen. "Wir sind keine Superwaffe", sagt er "sehen uns eher als Mosaikstein in der Gewaltprävention." Hätte Volkert Ruhe damals mehr Freizeit- und Betreuungsangebote gehabt, wäre er nicht auf die schiefe Bahn geraten, da ist er sich sicher. Deshalb müsse auch die Politik mehr solcher langfristigen Projekte fördern, damit die Jugendlichen ganzheitlich betreut werden können.

Wenn "Gefangene helfen Jugendlichen" mehr Mittel zur Verfügung hätte, würde Ruhe noch mehr Angebote finanzieren können. Gezieltes Antiaggressionstraining zum Beispiel, oder Bewerbungshilfe und Drogenberatung. Letzteres liegt Volkert Ruhe besonders am Herzen. Denn Alkohol und Rauschmittel führen zu Kontrollverlust und gesteigerter Aggressivität und sind dafür verantwortlich, dass Gewalt eskaliert. "Jugendliche begreifen zwar, dass eine Tat nicht richtig ist, aber oft nur solange sie nüchtern sind." Den Kopf vorher einschalten, bevor man Mist baut - so lautet die eigentlich einfache Botschaft des Vereinsgründers. Hinzu komme, dass Gewalt und Kriminalität in Jugendgangs als cool gelten. Volkert Ruhe versucht daher in Gesprächen klarzustellen, was eigentlich Freunde sind. "Ich möchte ihnen vermitteln, dass wahre Freunde einen nicht in Straftaten mit reinziehen, sondern vielmehr davon abhalten."

Wenn er nach zehn Jahren Bilanz zieht, ist Ruhe ganz zufrieden. "Wir haben bisher mehr als 1400 Jugendliche betreut, und ich habe das Gefühl, dass wir vielen von ihnen helfen konnten. Manchmal bekomme ich eine Rückmeldung oder erfahre, dass ein ehemaliger Schüler einen Ausbildungsplatz gefunden hat. Das freut mich dann richtig." Manch einer bringt einen Kumpel mit oder nimmt das Angebot an, auch später mal zum Quatschen vorbeizukommen. Die Nähe zu den Jugendlichen, das Verständnis für ihre Situation und ihre Sorgen machen die Vereinsarbeit so erfolgreich. Und das Gefühl, was ihnen dort vermittelt wird: nicht allein zu sein.