Mitten in Lübeck steht es, am Kirchhof der Marienkirche, wo früher die Marktleute ihre Waren feilboten. Feuer und Krieg hat das Buddenbrookhaus erlebt. Aber auch den jungen Thomas Mann beim Spielen beobachtet. Heute wird es 250 Jahre alt und könnte einiges erzählen. Da lohnt es sich, genau hinzuhören.

Sie feiern mich. Ich bin 250 Jahre alt. Ich bin das Buddenbrookhaus in Lübeck. Gut, vor einem Vierteljahrhundert gab es natürlich noch keine Buddenbrooks, den Namen bekam ich erst später. Als die Familie Buddenbrook im Jahr 1901 aus Thomas Manns Romanseiten steigt, sind die vornehmen Lübecker sowieso gar nicht erfreut. Die Feder des Schriftstellers ist dem bürgerlichen Geist viel zu spitz. Heute ist das vergeben und vergessen. Heute gehöre ich zu den Attraktionen der Stadt. Und das macht mittlerweile recht viel Spaß.

Gäste wandeln über meine versiegelten Eichenholzbohlen. Sie versuchen, behutsam aufzutreten, anscheinend ist es ihnen peinlich, Lärm zu machen. Aber mir macht das Freude, so kann ich wenigstens auch mal einen Ton von mir geben. Ich bin etwas Besonderes. Ich bin ein begehbarer Roman. Und ich habe Vergangenheit. Lassen Sie mich Ihnen ein bisschen daraus erzählen:

Es fing ziemlich lebendig an. Johann Michael Croll, ein aus Marburg zugewanderter Kaufmann und Zuckerfabrikant, lässt mich 1758 bauen. Der Siebenjährige Krieg tobt; Wilhelmine, Lieblingsschwester des Alten Fritz stirbt - alle trauern; Papst Clemens XIII. folgt auf Benedikt XIV., und am 25. Dezember erscheint der von Halley vorhergesagte Komet am Himmel.

Ich sitze auf dem Höhenrücken des Stadthügels, dort wo traditionell Bürgermeister, Senatoren und reiche Kaufleute siedeln. Wer hier, in direkter Nähe des Rathauses, bauen kann, gehört zu den angesehenen Bürgern der Stadt - nebenan wohnen die Pastoren von St. Marien, der Lübecker Bürger- und Marktkirche. Ich stehe gegenüber diesem imposanten gotischen Backsteinbau, uns trennt nur der Kirchhof. Manchmal, wenn das Licht reflektiert, zwinkern wir uns zu. Und dann habe ich das Gefühl, dass das, was Croll mir übers Portal geschrieben hat, wahr ist: "Dominus providebit" - der Herr wird vorsorgen.

Thomas Mann hat das auch geglaubt. Er selbst hat hier übrigens nie gewohnt. Aber als Kind oft hier gespielt. Im Jahr 1842 zog Elisabeth Mann, geborene Marty, Thomas Manns Großmutter, ein. Natürlich ist sie da noch nicht Oma. Sie ist 30 und die Nichte von Johannes Croll. Ihren Mann bekniet sie, das Haus zu kaufen, in dem ihre Mutter Jahre zuvor aufgewachsen ist. Und Johann Siegmund Mann der Jüngere, rühriger Kaufmann auf dem Weg zu hohen Würden, Ältermann der Bergenfahrer, königlich niederländischer Konsul, Mitglied der Lübecker Bürgerschaft, erfüllt ihr diesen Wunsch gern.

Dass dies mein erster Schritt in die Welt der hohen Kultur ist, ahnte ich nicht: Die neuen Besitzer sind die Vorbilder für die honorigen Madame und Monsieur Buddenbrook in dem berühmten Roman.

Während die Stadtväter Lübecks darüber nachdenken, ob sie Mitglied der Hanse bleiben sollten, beobachte ich das bunte Treiben. Die Ratsherren überlegen, wie sie im Zeitalter der Industrialisierung möglichst profitieren können. Und ich höre das Hufklappern der Pferde, die die Kutschen über Kopfsteinpflaster ziehen, die Grüße und Unterhaltungen der Marktbeschicker, unterwegs zum nahe gelegenen Rathausmarkt, die auf Karren oder auf der Schulter die Waren transportieren. Gegenüber auf dem Kirchhof sehe ich die Reihe der Bäckerbuden, und der Geruch frischer Hefe- und Sauerteigwaren liegt in der Luft. Natürlich gibt es auch Tumulte, denn in allen Zeiten wird betrogen und gestohlen - von der Polizeiwache an der Mengstraße kann noch niemand einschreiten, die wird erst Mitte des 20. Jahrhunderts erbaut. Immerhin werden die Abendstunden ein bisschen sicherer, als Ende 1854 die Hauptstraßen der Innenstadt mit Gaslaternen ausgerüstet werden. Sie leuchten heller als ihre Vorgänger, die Öllampen, und sind weniger feuergefährlich. Das ist mir sehr recht.

In meiner Nachbarschaft an der Mengstraße 16 steht das älteste Verlags- und Druckhaus Deutschlands, es ist sogar noch mal 179 Jahre älter als ich. Das Haus Schmidt-Römhild veröffentlicht über die Jahre etliche Schriften zum Thema "Mann". Ebenfalls ein Nachbar, direkt um die Ecke am Markt, ist das Cafe der Konditorei Maret, das die Lübecker zum Verweilen einlädt und wo Johann Georg Niederegger den Beruf des Konditors und die Herstellung von Marzipan lernt.

Thomas Mann nun kommt also endlich 1875 nur einen Steinwurf entfernt an der Breiten Straße 38 zur Welt und zieht mit acht Jahren an die Beckergrube 52 um. Er ist, wie schon 50 Jahre zuvor Emanuel Geibel und Theodor Storm, Schüler am Stadtgymnasium Katharineum und fängt früh an zu schreiben. 1887 erlebt er den Lübeck-Besuch Kaiser Wilhelms I. Die Lübecker reden noch heute davon, dass der mal hier war. Und sind stolz darauf. So ein Theater. Thomas Mann hat im selben Jahr seine erste Tanzstunde.

Sein Leben, das seiner Mutter und seiner Geschwister ändert sich aber 1891 grundlegend: Der Vater, Thomas Johann Heinrich Mann, stirbt im Alter von 51 Jahren. Abgesehen von Schmerz und Trauer führte der Verlust des Familienoberhauptes damals oftmals zum finanziellen und gesellschaftlichen Niedergang. Ein Jahr vorher war bereits Großmutter Elisabeth gestorben. Die Familie verkaufte mich. Sie konnte nicht anders. An den Abschied denke ich lieber nicht. Für mich ändert sich alles.

Ich erlebe verschiedene Besitzer, bis 1894 die Stadt Lübeck Eigentümer wird. Thomas Mann verlässt die Stadt. Seine Mutter war mit den Geschwistern schon zwei Jahre zuvor nach München gezogen und er folgt. Er behält Lübeck und mich im Sinn, das merke ich vor allem sechs Jahre später. Da ist Mann gerade 26 Jahre alt. Die "Buddenbrooks" sind erschienen, das vornehme Lübeck sitzt auf dem Sofa und nimmt übel. Zwar taucht der Name der Stadt nicht ein einziges Mal im Roman auf, der Ort der Handlung aber, für den neben eindeutig identifizierbaren Charakteren auch ganze Straßenzüge vom Traveufer geborgt sind, ist unverkennbar. Die Lübecker sind empört über den "Nestbeschmutzer". Und ich muss das ausbaden. An mir wird gezerrt, gerissen und verändert. Für die Staatslotterie wird eine meiner Wände eingerissen. Gut 20 Jahre dauert es, bis die Wogen geglättet sind. Es ist das Jahr 1922, sieben Jahre bevor Thomas Mann den Literaturnobelpreis für die "Buddenbrooks" bekommt - nur für die "Buddenbrooks", was ihn ärgert. Ich bekomme den Namen "Buddenbrookhaus". Das geschieht mit Eröffnung der Buchhandlung, zu der auch Thomas Mann kommt. Sie feiern ein Friedensfest, der Schriftsteller, die Stadtoberen und die Kulturbewahrer. Und vermutlich ist die neuerliche Umgestaltung, die mit dem Abriss noch vorhandener Originaleinrichtungen endete, bloß gut gemeint gewesen. Der alte Croll aber hätte mich kaum wiedererkannt.

Nichts jedoch hat mich so erschüttert wie das, was folgte. 1933 hat Lübeck einen nationalsozialistischen Bürgermeister, 1936 wird Thomas Mann ausgebürgert, und mir nimmt man den Namen. Das "Wullenweverhaus" machen die Nazis aus mir, sogar das "Dornesche Haus", nach einem Besitzer des Vorgängerhauses.

In der frostklaren Vollmondnacht zum 29. März 1942 fallen die britischen Bomben. "Ich denke an Coventry und habe nichts einzuwenden gegen die Lehre, dass alles bezahlt werden muss", sagt Thomas Mann zwei Tage später dazu im Rundfunk. Ich hoffe, dass es mich nicht trifft. Die Lübecker auch. Meine große Nachbarin, die Marienkirche, brennt völlig aus, die Totentanzorgel, auf der Dietrich Buxtehude gespielt hat, wird vernichtet, die Gemälde "Gregorsmesse" und "Lübecker Totentanz" verbrennen, die Glocken stürzen herab. Sie bleiben als Mahnmal am Boden liegen. In drei Angriffswellen werden zwei Fünftel der Lübecker Altstadt zerstört. Und in derselben Nacht erwischt es auch mich. Sirenengeheul, Dunkelheit und gleißendes Licht von Explosionen wechseln sich ab. Staub. Feuer, Schreie, die nicht verklingen wollen. Von mir sind Fassade und barocker Gewölbekeller geblieben. Das scheint das Ende zu sein. Alle Träume sind ausgeträumt. Trostlosigkeit, Hunger und Verzweiflung lungern wie dunkle Gestalten auf den Straßen. Auch vor meiner Tür.

Dann werden die Trümmer beseitigt. Die Nazis auch. Thomas Mann kommt aus dem amerikanischen Exil zurück nach Europa. Er wohnt jetzt in der Schweiz. 1953 reist er mit seiner Frau Katia an die Trave und besucht mich. Wie schön, ihn wiederzusehen. Ob er mich wohl noch erkannt hat? Das offizielle Lübeck will ihn nicht. Und er will die Lübecker nicht. Noch nicht. Zwei Jahre später, im Mai 1955, wird Thomas Mann Lübecker Ehrenbürger. Danach habe ich ihn nie wieder gesehen. Im August stirbt er. Da bin ich schon an eine Genossenschaftsbank verkauft worden. Immerhin, allmählich dämmert es in der Stadt, dass mit mir und meiner Geschichte Geld zu verdienen wäre. 1975 wird im Zwischengeschoss ein Thomas-Mann-Zimmer eingerichtet. Ganze 18 Jahre dauert es noch, bis 1993 - die Stadt hat mich zurückgekauft - das Thomas-und-Heinrich-Mann-Zentrum eröffnet wird.

Eine große Feier, zu der auch Bundespräsident Richard von Weizsäcker kommt. Sie versammeln sich wieder auf dem Stadthügel, die Ratsherren und -damen und die wichtigen Personen der heutigen Zeit. Heide Simonis spricht mir ein Grußwort, und ich kann ein Schmunzeln auf den Lippen Marcel Reich-Ranickis entdecken. Ich freue mich und bin von nun an wieder offen für die Welt.

Nun wandeln sie, die Besucher, fast jeden Tag. Und tuscheln miteinander. "Gab es sie oder gab es sie nicht, die Buddenbrooks? Wie haben sie wohl gekocht? Was gegessen und was getrunken? Haben die Dielen da auch schon so geknarrt? Typisch Buddenbrooks, irgendwie."