Ruben Herzberg ist 56 Jahre alt, in Haifa geboren und leitet die Klosterschule in St. Georg. David Tichbis Eltern stammen aus Iran und Österreich. Er selbst ist mit 26 Jahren das jüngste Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde. Ein Gespräch zweier Hamburger Juden über die Dämonen der Vergangenheit, den Einfluss der Religion - und über ein Deutschland, das heute anders ist.

Journal: Herr Herzberg und Herr Tichbi, Sie sind die ersten beiden jüdischen Hamburger, denen ich begegne und die ich bewusst spreche. Wie finden Sie das?

Ruben Herzberg: Das finde ich ganz normal. Normal unter den Bedingungen, die in Deutschland und in Europa nach dem Holocaust herrschen. Das wäre Ihnen zum Beispiel 1929 in Hamburg nicht passiert. Damals existierte in Hamburg noch die zweitgrößte jüdische Gemeinde Deutschlands nach Berlin. Dort gab es damals etwa 130 000 Juden bis zum Beginn der Nazizeit. In Hamburg waren es immerhin 24 000. Es wäre also undenkbar gewesen, dass ein Hamburger noch nie einem Juden begegnet ist. Das wäre ungefähr so, als wenn ein Hamburger heute sagen würde: Einem Türken bin ich noch nie begegnet.



Also nicht bewusst begegnet ...

Herzberg: Genau. Heute gibt es mit Sicherheit auch keinen Hamburger, der nicht schon einmal einem Hamburger Juden begegnet wäre, mit ihm in derselben U-Bahn oder im selben Restaurant gesessen hätte. Wir tragen unsere Identität ja nicht ständig wie einen Stempel auf der Stirn mit uns herum.



Wie viele Juden gibt es heute in Hamburg?

David Tichbi: 3000 Juden sind Mitglieder der Gemeinde. Weitere 1000 bis 2000 sind nicht Mitglieder der Gemeinde oder anders organisiert. Beispielsweise in der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hamburg, mit der wir auch kooperieren.


Herzberg: Die meisten Gemeindemitglieder sind ältere Zuwanderer aus Osteuropa, die erst seit wenigen Jahren in Deutschland leben. Wir sind über diesen Zustrom sehr glücklich, weil nur auf diese Weise eine Wiederbelebung jüdischen Lebens in Deutschland denkbar ist, aber dieser Zustrom stellt auch eine große Herausforderung dar. Unsere Integrationsanstrengungen sind eine wichtige Aufgabe der Gemeinde. Die schlechten Einkommensverhältnisse vieler Mitglieder sind für die sehr geringen Einnahmen der Gemeinde aus Mitgliedsbeiträgen verantwortlich.


Aber das jüdische Leben in Hamburg ist ja nicht wirklich präsent, oder?

Tichbi: Das stimmt, doch wir sind auf einem guten Weg. Ein jüdisches Kulturleben beginnt jetzt allmählich wieder zu entstehen, das sich nicht nur an Hamburger Juden richtet, sondern an alle Hamburger, die sich für jüdische Themen interessieren. Es ist aber ein mühsamer Prozess. Das braucht Zeit, Geld und Professionalität.



Sie beide haben sehr unterschiedliche Biografien, 30 Jahre liegen zwischen Ihnen. Ihre Familien hatten extrem unter dem Holocaust zu leiden - und dennoch leben Sie heute in Deutschland, in Hamburg und bemühen sich um den Bestand und die Entwicklung jüdischen Lebens. Herr Herzberg, wie fühlt man sich 2008 als Jude in Deutschland, in Hamburg?

Herzberg: Ich bin 1951, also sechs Jahre nach Ende des Holocaust, in der israelischen Hafenstadt Haifa geboren und in einer Familie groß geworden, in der Deutsch gesprochen wurde. Meine Eltern hatten sich 1936 in Haifa kennengelernt, kurz nachdem meine Mutter als 15-Jährige aus Deutschland geflohen war. Mein Vater kam aus Berlin, ein Berliner Jung, der sich seines Jüdischseins gar nicht bewusst war und auch nicht danach erzogen wurde. Ganz im Gegenteil: Sein Vater war kämpferischer Atheist. Erst als Hitler 1933 an die Macht kam, musste er feststellen, dass er zur Gruppe der Ausgegrenzten gehörte und entschloss sich, Deutschland so schnell wie möglich zu verlassen.



Erstaunlich, dass Ihre Eltern in so jungen Jahren die politische Lage so gut reflektiert und sich zur Emigration entschlossen haben.

Herzberg: Ja, meine Eltern sind rechtzeitig aus Nazi-Deutschland geflohen. Ich wehre mich aber in diesem Zusammenhang gegen den Begriff "Emigration", also "Auswanderung". Das klingt fast freiwillig. Es war eine Flucht, ohne Hab und Gut und ohne Eltern.



Haben sich Ihre Eltern in der neuen Heimat gleich wohlgefühlt?

Mein Vater hat Berlin 1934 als 20-Jähriger unter großer Trauer verlassen. Und nachdem er schon einige Jahre in Israel war, hat er immer noch davon geträumt, mal in die USA zu kommen oder nach Großbritannien. Da, wo es "zivilisiert"und nicht so "orientalisch" zugeht. Er war eben ein richtiger preußischer Beamtentyp. Ein Beispiel: Es freute ihn zwar, dass es dort damals schon Linienbusverkehr gab, aber dass keine Fahrpläne an den Haltestellen hingen, das ärgerte ihn sehr. Mein Vater hat sich nie an das Pionier-Leben und an die Hitze in Israel gewöhnen können und kehrte deshalb 1958 mit Mitte 40 wieder nach Deutschland zurück. Er wollte seine verlorene Jugend zurück. Er sehnte sich nach dem Berlin der späten 20er-Jahre, dem Berlin des "Blauen Engel", der Marlene Dietrich. Aber dieses Berlin gab es nicht mehr.



Und Ihre Mutter?

Herzberg: Meine Mutter wollte nicht wieder zurück nach Deutschland. Sie ist mit der Überzeugung aus Deutschland geflohen, dass es in Europa keine Zukunft mehr für Juden geben kann - das wusste sie schon vor dem Holocaust, weil sie bereits in der Schule ausgegrenzt wurde. 1933, im Jahr der Machtergreifung, war sie zwölf Jahre alt. In ihrer Schule wurde sie vorgeführt als das jüdische Mädchen in der Klasse, da hieß es dann: Zeig mal deine Ohrläppchen, zeig mal deine Nase. Deshalb ist sie geflohen, ganz allein. Ihre Eltern wollten sie nicht gehen lassen. Ihr Bruder Heinz Egon Günter wurde mit 17 Jahren zusammen mit meinen Großeltern Anfang März 1943 in Auschwitz ermordet. Meine Mutter ist meinem Vater 1958 zähneknirschend zurück nach Deutschland gefolgt, sie konnte nicht wirklich akzeptieren, wie man ins "Land der Mörder" zurückkehren konnte.



Herr Tichbi, wie ist Ihre Familie nach Hamburg gekommen?

Tichbi: Mein Vater ist vor dem Zweiten Weltkrieg, meine Mutter nach Ende des Zweiten Weltkrieges zur Welt gekommen. Die Familie meines Vaters kommt aus Iran, weshalb sie den Holocaust nicht erleben mussten. Die Eltern meiner Mutter waren Juden aus Polen und Ungarn. Sie litten extrem unter der Verfolgung durch die Nazis. Geboren wurde meine Mutter in Österreich und verbrachte dann einen Teil ihrer Kindheit in Israel. Sie und meine Großeltern lebten später für kurze Zeit unter anderem in Italien, der Schweiz und schließlich in Belgien. Als meine Eltern sich dann kennenlernten und heirateten, zogen sie nach Hamburg, wo mein Vater seine Stelle als Arzt hatte. Diese Wanderbewegung ist ganz typisch für Holocaust-Überlebende, weil sie lange Zeit heimatlos waren, entwurzelt.



Ihr Vater hatte es in Iran als Jude sicher auch nicht einfach.

Tichbi: Das ist nicht richtig. Bis zur islamischen Revolution hatte Iran eine blühende und riesige jüdische Gemeinde, bis heute die zweitgrößte im Nahen Osten. Antisemitismus spielte kaum eine Rolle, so etwas gab es praktisch nicht. Das ist vielen nicht bewusst. Der heute wahrnehmbare staatliche Antisemitismus begann erst nach der islamischen Revolution.



Wie lebt es sich mit diesen jüdischen Familienbiografien in Hamburg heute, eine oder zwei Generationen später?

Tichbi: Durch meine Familiengeschichte habe ich ein starkes Bewusstsein für die Geschichte entwickelt, wenngleich ich Deutschland heute als ein anderes Deutschland betrachte. Ich kann die Geschichte von meinem Leben heute ganz gut trennen, auch wenn ich mich mit dem Leben meiner Großeltern und Vorfahren intensiv beschäftige. Das macht mich manchmal sehr traurig, und ich frage mich, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn das alles nicht passiert wäre. Fast die gesamte Familie wurde ausgelöscht. Es gibt keine Fotos, keine Gräber, die man besuchen kann, kaum Erinnerungen. Das ist Teil meines Lebens, auch wenn ich zur jungen Generation gehöre.



Was haben Ihre Großeltern durchlebt?

Tichbi: Sie waren in Konzentrationslagern, mein Großvater in mehreren, unter anderem in Auschwitz. Zuvor war er im Warschauer Getto im Aufstand. Manchmal waren es bizarre Zufälle, die ihn überleben ließen. Einmal stand er mit mehreren Männern an einer Wand, sie sollten erschossen werden. In dem Moment rief ein SS-Offizier nach zwei Männern, die sein Auto reparieren sollten. Mein Großvater meldete sich geistesgegenwärtig. Das rettete ihm das Leben. Zwei Minuten später wurden alle anderen, die an der Wand standen, erschossen.


Meine Großmutter stand in Auschwitz mit ihrer ganzen Familie in einer Reihe vor der Gaskammer. Plötzlich zog sie ein SS-Mann heraus, sie wusste nicht, warum. Sie schrie und weinte, dass sie zu ihren Eltern zurück wolle. Später zeigte der SS-Soldat auf den Rauch, der aus dem Schornstein zog und sagte zu ihr: Da sind deine Eltern. Sie hat an dem Tag bis auf zwei Geschwister ihre gesamte Familie verloren.


Wie empfanden es Ihre Großeltern, dass Ihre Mutter später nach Hamburg gezogen ist - ins "Land der Mörder"?

Tichbi: Sie waren nicht böse und haben uns sogar mehrere Male in Deutschland besucht. Auch wenn es besonders der Generation meiner Großeltern schwerfällt, muss man verstehen, dass das Deutschland heute ein anderes ist.


Herzberg: Wenn man Familienbiografien wie unsere betrachtet, ist es gar nicht so einfach, die Frage zu beantworten, wie es sich heute als Jude in Hamburg lebt. Die jüdische Identität ist ein ganz wesentlicher Teil meines Lebens, auch wenn sie nicht in jedem Kontext präsent ist. Beruflich bin ich ins Hamburger Schulwesen eingebunden, und natürlich spielt das Jüdische da auch eine Rolle, allein schon in den Bildungsplänen. Es war auch nie ein Geheimnis bei Schülern und Kollegen, dass ich Jude bin, aber es war nie vorherrschend. Ich empfinde mich als Teil der Hamburger Gesellschaft, aber ich habe auch andere Wurzeln, die in meiner Familiengeschichte und in der Verbindung nach Israel liegen. Ich kann zwei Kulturen ganz gut miteinander verbinden. Ich habe eine Identität, die sich aus zwei Quellen speist. Ich empfinde es als ganz wichtige Aufgabe, das, was an jüdischem Leben in Hamburg übrig geblieben ist und neu entsteht, mitzugestalten und wiederzubeleben.


Jüdischsein und Identität: Fühlen Sie sich als Juden oder als Deutsche?

Tichbi: Was vielleicht viele nicht verstehen: Es stellt überhaupt keinen Widerspruch dar, gleichzeitig Jude und Deutscher zu sein. Das Judentum war immer ein Teil der deutschen Kultur. Das gilt auch für viele andere Länder, wie beispielsweise Iran, wo das Judentum auch immer ein Teil der persischen Kultur war. Der Überlieferung nach kommt das jüdische Purimfest aus Persien. Ich sehe mich als jüdischer Deutscher.


Herzberg: Wir sind deutsche Juden. Jüdische Deutsche. Hamburger Juden eben.

Tichbi: Meine Eltern haben sehr darauf geachtet, dass ich die jüdische Identität mitbekomme. Ich konnte Hebräisch lesen, noch bevor ich Deutsch lesen konnte. Es war ihnen immer sehr wichtig, dass ich die Grundlagen habe, um später daraus selbst eine jüdische Identität zu entwickeln. Das ist geglückt, auch wenn das Religiöse im Alltag für mich keine wesentliche Rolle spielt. Ich glaube, dass jeder Jude seinen eigenen Zugang zu dieser jüdischen Identität finden muss. Ob über die Religion, die Familie oder die Geschichte.


Wenn wir von jüdischem Leben in Hamburg sprechen: Was muss sich aus Ihrer Sicht noch tun?

Tichbi: Wir sind auf einem guten Weg. Das hat die Wiedereröffnung der Joseph-Carlebach-Schule - einer jüdischen Schule - im vergangenen Jahr im Gebäude er alten Talmud-Tora-Schule am Grindelhof gezeigt. Es muss so weitergehen: Ich würde mir wünschen, dass die jüdische Kultur auf ganz natürlichem Weg wieder ein Teil der Hamburger Kultur wird. So, wie es vor dem Zweiten Weltkrieg ja eigentlich auch war. Dafür wollen wir uns einsetzen.


Herzberg: Schon die erste Eröffnung der Schule vor sechs Jahren war ein großer Schritt nach vorn, auch wenn der Betrieb nach drei Jahren vorübergehend eingestellt werden musste. In diesem Jahr gibt es über 150 Prozent mehr Anmeldungen als im vergangenen Jahr. Eine Steigerung von 12 auf 35 Schüler. Und ein Teil der neu angemeldeten Schüler kommt aus nichtjüdischen Familien. Das gehört zum Konzept, auch des jüdischen Kindergartens.


Bei all Ihren Bemühungen: Was empfindet man als Hamburger Jude bei einer Demonstration der NPD, so wie am 1. Mai?

Tichbi: Es gibt leider auch heute noch Menschen, die das Gedankengut der Nazis weitertragen. Die nicht aus der Geschichte gelernt haben. Solche Demonstrationen sind immer ein Grund zur Sorge und ein Zeichen dafür, weiter zu ermahnen und die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten. Wir müssen weiter dafür kämpfen, auch präventiv bei Jugendlichen, in Schulen. Wir müssen weiter aufklären. Dennoch habe ich keine Angst. Für mich ist es wichtig zu sehen, wie die normale Bevölkerung auf solche Phänomene reagiert. Die Demonstration stieß bei den Hamburgern auf große Ablehnung - und das ist die Hauptsache. Wir leben nun einmal in einer Demokratie, und die muss auch rechtsextremistische Demonstrationen aushalten können.



Ruben Herzberg (56) ist Leiter des Ganztagsgymnasiums Klosterschule und Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Hamburg.

David Tichbi (26) ist jüngstes Mitglied im Vorstand der Gemeinde. Der Jurist schreibt zurzeit an seiner Promotion.