Gelingt das Neu-Geboren-Werden nicht, so wird der Mensch ersticken, ersticken an sich selbst als der bloßen Gewohnheit, an der Routine des Bloß-Noch-Vor-Sich-Hinlebens. Man sagt gelegentlich, meist nach einem schönen Erlebnis, man fühle sich "wie neugeboren". Darin kommt andeutungsweise zum Ausdruck, dass es im eigentlichen Sinne menschlich ist, immer wieder neu geboren zu werden, weil man nur auf diese Weise sich und die Welt erfährt, im eigentlichen Sinne erfährt, also neu erfährt.

Verweigern wir uns dem Frühling nicht! Zeigen wir Mut: um aufzubrechen zu Neuem, zu Ungewohntem. Gehen wir auf uns selbst zu! Und aufeinander. Warten wir nicht, bis der andere den ersten Schritt tut. Seien wir dem Frühling nicht so feindlich gesinnt wie "Adalbert, der Novellist" aus Thomas Manns Novelle "Tonio Kröger". Wohl in bewusstem Bezug zu Goethe hat Thomas Mann, der Goethe-Kenner und - so sah er sich selbst, so wollte er gesehen werden - Goethe-Nachfolger, diese Passage in witzig-ironischem Ton geschrieben: als Beleg für eine nur noch literarische Existenz, die am Leben vorbeigeht, als Beleg für decadence. Tonio Kröger, der Protagonist der Erzählung, besucht die Malerin Lisaweta Iwanowna in ihrem Schwabinger Atelier, in welches durch das geöffnete Fenster "des Frühlings junger, süßer Atem hereinströmt". Und Tonio Kröger beginnt der Malerin zu berichten: "Vor fünf Minuten, nicht weit von hier, traf ich einen Kollegen, Adalbert, den Novellisten. 'Gott verdamme der Frühling!,' sagte er in seinem aggressiven Stil. 'Er ist und bleibt die grässlichste Jahreszeit! Können Sie einen vernünftigen Gedanken fassen, Kröger, können Sie die kleinste Pointe und Wirkung in Gelassenheit ausarbeiten, wenn es Ihnen auf eine unanständige Weise im Blute kribbelt und eine Menge von unzugehörigen Sensationen Sie beunruhigt, die, sobald Sie sie prüfen, sich als ausgemacht triviales und gänzlich unbrauchbares Zeug entpuppen? Was mich betrifft, so gehe ich nun ins Cafe. Das ist neutrales, vom Wechsel der Jahreszeiten unberührtes Gebiet ...'"

Lassen wir das Kribbeln und die unzugehörigen Sensationen zu! Nehmen wir den Frühling an - als ein Geschenk! Lassen wir uns irritieren! Lassen wir es zu, dass der gewohnte Gang unterbrochen wird! Man darf sicher sein, dass dann nicht und nicht immer nur triviales und unbrauchbares Zeug herauskommen wird.


Prof. Dr. Günter Seubold lehrt an der Universität Bonn und forscht im Bereich der Ästhetik, Anthropologie und Kultur- und Technikphilosophie.