Schrift-Stücke

Frau Anders sah auf die Uhr an der Wand: Bald war es so weit. Sah auf das aufgeschlagene Buch vor sich und dachte: Genug für heute. Las noch einmal ihre ersten Aufschriebe zu Hubert Fichtes "Palette". Noch eine halbe Stunde, und sie würde die erste Vorlesung dazu besuchen. Sie interessierte sich für die neuere Literatur. Sie mochte das Fremde daran, und dieses wilde Leben, das sich in ihrer Stadt abgespielt hatte, ein paar Straßen weiter sozusagen, das war so fremd, da musste sie jeden Satz zweimal lesen.

Das Kneipenleben, da musste sie an Jonas denken und wurde oft traurig darüber, nahm sich zusammen. Das war Literatur, nicht die Wirklichkeit. In Jonas' Kneipe war sie noch nie gewesen. Überhaupt war sie nicht viel in Kneipen gewesen, dafür war es jetzt wohl zu spät. Aber für die Literatur war es nie zu spät, und die Schönheit war so versteckt in dem Buch, das machte es für sie spannend. Spannend war es sowieso, hier zu sein. Sie kannte schon einige von den jungen Leuten. Letztlich hatte eine sie gegrüßt, in der Kirche, das war brenzlig gewesen.

"Woher kennst du denn die?", hatte Willi gefragt. "Vom Supermarkt", hatte Frau Anders geantwortet. Nach dem Gottesdienst war sie ihr ausgewichen.

Der junge Mann neben ihr klappte sein Buch zu. Den ganzen Vormittag hatte er gelesen und mit dem Fuß gegen das Stuhlbein geschlagen. Ein nervöser junger Mann, ein Mann kurz vor den Prüfungen wahrscheinlich, dabei war er schätzungsweise erst Mitte zwanzig. Die meisten hier waren so jung; das hatte sie sich anders vorgestellt. Die wenigsten saßen hier den ganzen Tag im Cafe, sie studierten keine zehn Jahre wie Jonas damals. Manche schienen fast gehetzt. Frau Anders war froh, dass sie so viel Zeit hatte.

Freie Zeit, die sie gar nicht gewollt hatte, nicht schon jetzt. "Frührente" nannten sie es, dabei war sie noch keine 60. "Das ist eine Kündigung, ganz einfach", hatte Frau Kuhn gesagt, ihre Ex-Kollegin, die das völlig irre machte: die viele Zeit, die leeren Tage. Frau Anders traf sie manchmal zum Kaffee. Sie selbst war ganz ruhig geworden nach einer Gewöhnungsphase. Hatte die Zeit genossen, ohne Willi, zu Hause, und dann, irgendwann, als sie anfing, sich zu langweilen, war ihr die Idee mit der Uni gekommen.

Frau Anders wusste, was Willi von der Uni hielt. Dass Jonas zur Uni gehen konnte, nur Unsinn studieren, wie Willi sagte, das hatte sie durchgesetzt, einmal hatte sie sich durchgesetzt. Und dann war nichts daraus geworden. Seit Jonas nach zehn Jahren Studium eine Kneipe eröffnet hatte in Heidelberg, hatte Willi nicht mehr mit seinem Sohn geredet. Als Jonas vor Jahren das letzte Mal beim Kaffee in ihrer Küche saß und sagte: "Eine Kneipe mit Live-Musik, zusammen mit Ede", war es still geworden. "Na denn", hatte Willi gesagt, war aufgestanden und in sein Zimmer gegangen.

Deswegen hatte Frau Anders ihm nichts erzählt von ihren Studienplänen, sich heimlich eingeschrieben. Auch ihr Sohn wusste nichts, ihr Sohn, mit dem sie manchmal telefonierte und der immer noch sehr belesen war. Darum hatte sie ihn immer beneidet: um die Jahre an der Universität, egal, was daraus geworden war. Sie selbst hatte nach dem Abitur nur Bürokauffrau gelernt. Und als Jonas unterwegs gewesen war, hatten sie schnell heiraten müssen. Heiraten, einen Mechaniker, ihr Vater tobte; ein Ingenieur hätte es schon sein können. Das hatte Willi nicht auf sich sitzen lassen. Hochgearbeitet hatte er sich, an die Fachhochschule war er noch gegangen. Und Frau Anders wieder zur Arbeit, denn es blieb bei dem einen Sohn, obwohl sie es sich anders gewünscht hätten. Das Arbeiten war auch nicht schlecht gewesen.

Aber jetzt war sie hier, um alles nachzuholen. Gelesen hatte sie ihr Leben lang. Wie viel man über die Bücher reden konnte, das hatte sie nur geahnt. Es schien ihr als unglaublicher Luxus, diese Bücher so wichtig zu nehmen. Manchmal konnte sie es immer noch nicht glauben. Willi wurde es schon zu viel, wenn sie erzählte, was sie las. "Interpretationen, Analysen, wem nützt das denn?", würde er sagen, hatte er immer schon gesagt. Nur war das zum Glück egal. Es ging ihn nichts an. Und nützlich war sie nun sowieso nicht mehr.

Frau Anders packte ihre Sachen und nickte ihrem Nachbarn zu. "Viel Glück", sagte sie. Er bedankte sich höflich.

In der letzten Reihe klappte Frau Anders einen Stuhl herunter, packte Block und Stifte aus. Es war noch fast niemand da, die akademische Viertelstunde. An die hatte sie sich nicht gewöhnt. Sie störte aber auch nicht. Frau Anders saß gern in der letzten Reihe und sah zu, wie die Studenten langsam hereinströmten in den Saal. Sah sich an, was sie für Kleider trugen, was modern war. Schaute auf die große leere Tafel. Ein Mann um die 70 mit Schnurrbart nahm neben ihr Platz, gab ihr die Hand, stellte sich vor: "Angenehm, Winter."

Herr Winter wollte Konversation betreiben. Was sie sonst noch für Kurse belegt habe, fragte er, und wie lange sie schon dabei sei. Sie antwortete höflich, aber distanziert. Die anderen Kontaktstudenten interessierten sie nicht, dafür war sie nicht hier. Sie ließ ihre Blicke weiter schweifen. Da traf es sie wie der Schlag: Durch die Tür trat Willi in den Raum, mit seinen kurzen, präzisen Schritten, in seinem braunen Anzug, leicht gebeugt. Sie duckte sich, versteckte sich unter dem Tisch.

"Suchen Sie etwas?", fragte Herr Winter. "Nein, nein", sagte sie und setzte sich vorsichtig wieder aufrecht, sah sich um. Hier hinten konnte ihr nichts passieren. Willi saß jetzt ganz rechts in der ersten Reihe und machte keine Anstalten, sich umzusehen. Packte Block und Stift aus einer Tasche, die sie noch nie gesehen hatte, und sah nach vorne, wo inzwischen der Professor stand. Der hüstelte jetzt, worauf es still wurde im Saal. So still, dachte Frau Anders, das wird Willi überraschen. "Chaoten", hatte er die Studenten genannt, wenn er über sie in der Zeitung las, obwohl sie doch nur noch friedlich demonstrierten.

Der Professor fing an zu erzählen, von autobiografischen Anteilen, von der Methode der Collage. Er sprach sehr engagiert, mit ausladenden Bewegungen. Frau Anders versuchte zuzuhören, Notizen zu machen. Musste aber immer wieder zu Willi hinsehen, der in einem fort mitschrieb.

Er schreibt sicher Steno, dachte Frau Anders. Sie hatte ihm Stenografie beigebracht, so hatte es angefangen. Im Cafe hatte er ihre Aufschriebe gesehen und gefragt, ob sie ihm das beibringen könne. Er hatte schnell gelernt. Aber eigentlich war es ein Vorwand gewesen. Ein leicht durchschaubarer Vorwand, um sie kennenzulernen. Willi war leicht durchschaubar, obwohl er nicht viel redete, und über die Jahre war er noch stiller geworden. Warum er nicht bei der Arbeit war, fragte sie sich. Und was er an der Uni wollte, und dann noch ausgerechnet Germanistik. Das kann kein Zufall sein, kam es ihr. Er hat mich ausspioniert. In die unteren Küchenschubladen geschaut und die Aufschriebe gefunden. Sie blieb sitzen nach der Vorlesung.

Herr Winter sagte: "Es war schön, Sie kennenzulernen, Frau Anders. Kommen Sie nächstes Mal wieder?" Sie nickte und ließ ihn vorbei. Beobachtete, wie Willi hastig hinausging, ohne sich umzudrehen.

Sie traf ihn nicht auf dem Heimweg, die Wohnung war leer, als sie ankam. Frau Anders kochte, wie üblich. Und Willi erschien pünktlich zum Abendessen. Kartoffeln und Fisch, es war Freitag. Frau Anders zog die Schürze aus, fragte: "Wie war die Arbeit?"

Er nickte, "nichts Besonderes", sah sie nicht an. Das tat er auch sonst nicht oft, und so aßen sie schweigend. Nur dass es in Frau Anders rumorte. Sie spähte auf den Flur. Da stand die braune Ledertasche, tatsächlich. Er sah nur auf seinen Teller, kratzte ihn am Ende ab, den letzten Rest, akribisch. Das war eine Angewohnheit, die sie nicht mochte.

Als er aufstand, um zu spülen, wie jeden Tag, blieb sie sitzen, statt das Handtuch zu nehmen. Er ließ das Wasser einlaufen.

"Willi, was machst du an der Universität?", fragte sie leise.

Er drehte sich nicht um, fing an, die Teller zu schrubben, hielt sie danach unter laufendes Wasser, um den Schaum abzuspülen. "Sie haben mich auf Teilzeit gesetzt", sagte er. "Und ich dachte, vielleicht könnten wir mal wieder etwas zusammen machen."

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