Hamburg - Tor zur Neuen Welt * Fünf Millionen Menschen wanderten von 1850 bis 1939 über Hamburg nach Amerika aus. Ausgangspunkt für die Reise der Hoffnungen und Sehnsüchte war eine kleine “Stadt“ auf der Veddel. Dort wird am Donnerstag die “Auswandererwelt Hamburg“ eröffnet.

Der Putz ist noch feucht, alles riecht neu, nach frischer Farbe. Die Mauern der drei Backsteinpavillons leuchten in makellosem Ziegelrot. Vor etwa 100 Jahren wird es ganz ähnlich gewesen sein, damals, als Arbeiter auf der Veddel gerade ein ganz neues, sehr außergewöhnliches Wohnquartier errichteten.

Es war eine eigene kleine Stadt, in der sich aber niemand auf Dauer einrichten sollte. Eine Stadt mit ständig wechselnder Bevölkerung. Keine Heimat, sondern ein Ort des Abschieds, ein effizient organisiertes Provisorium, mit vielen Vorschriften und manchen Einschränkungen für die Bewohner, aber dennoch ein menschenfreundlicher Ort.

Der S-Bahnhof Veddel mit Zeitungskiosk und Dönerbuden ist in Sichtweite, auf dem Veddeler Bogen staut sich der Verkehr, vom Müggenburger Zollhafen weht das Tuten eines Schiffs herüber. Der historische Ort, dessen Schicksal nun wieder lebendig gemacht werden soll, ist nicht entrückt, sondern mittendrin im geschäftigen Hamburg.

Wenn am 5. Juli an authentischer Stelle die "BallinStadt" eröffnet wird, rückt die Hansestadt ein Kapitel ihrer Geschichte ins Bewusstsein, das lange Zeit fast vergessen war: Die mit einem Kostenaufwand von etwa zwölf Millionen Euro gestaltete "Auswandererwelt Hamburg" erinnert mit aufwendigen multimedialen Inszenierungen an die etwa fünf Millionen Menschen, die zwischen 1850 und 1939 von der Hansestadt aus nach Übersee ausgewandert sind, in eine ungewisse Zukunft.

Nachdem die Auswanderer, die aus allen Teilen Deutschlands und vielen Ländern Osteuropas kamen, in den Jahrzehnten zuvor unter menschenunwürdigen Bedingungen in Hamburg auf ihre Schiffspassage ausharren mussten und oft von Schleppern und gerissenen Herbergswirten finanziell ausgenommen wurden, hatte die Hamburg-Amerika-Linie um 1900 damit begonnen, Abhilfe zu schaffen: Auf Initiative des weitsichtigen Hapag-Chefs Albert Ballin wurden damals auf einer Fläche von etwa 55000 Quadratmetern mehr als 30 Bauten errichtet, in denen sich alle Aufgaben konzentrieren ließen, die für die Auswanderung notwendig waren: Anreise per Eisenbahn, Registrierung, Unterbringung, Kontrolle der Personalien, Beschaffung der notwendigen Ausreisepapiere, gesundheitliche Untersuchung, Organisation der Quarantäne, Informationen über die Einreise in die USA oder die anderen überseeischen Zielgebiete und Bezahlung der Passage. Die "Musterstadt" auf der Veddel umfasste nicht nur Schlaf- und Wohnpavillons, sondern auch Speisehallen, Bäder, eine Arztstation, Büros sowie Kirchen und eine Synagoge.

Fast nichts davon hat die Zeit überdauert. Als die Zahl der Auswanderer Anfang der 30er-Jahre drastisch zurückging, wurden die Pavillons zunächst als Lagerhäuser genutzt, später nach und nach abgerissen. Eine einzige der ursprünglich zahlreichen U-förmigen Backsteinhallen blieb bis in die jüngste Vergangenheit erhalten, musste dann aber doch abgetragen werden, denn die Bausubstanz war zu marode.

Der Abriss dieses Gebäudes war zugleich der Auftakt für die Wiedergeburt der Auswandererhallen, diesmal als modernes Erlebnismuseum. Die neue "Auswandererwelt Hamburg" wird aus drei Backsteinhallen gebildet, die nach den glücklicherweise erhalten gebliebenen Bauplänen und historischen Fotografien so weit wie möglich originalgetreu am originalen Standort und im Fall des letzten erhaltenen Gebäudes sogar teilweise unter Wiederverwendung der originalen Backsteine erbaut wurden. Der Eingangsbereich ist im linken der drei rekonstruierten Pavillons untergebracht. Auf der Stirnseite des glasüberdachten Innenhofs befinden sich Besucherinformation und Kasse. Direkt darüber ist ein großformatiges historisches Foto angebracht, das dokumentiert, wie die neuankommenden Auswanderer vor 100 Jahren ungefähr an derselben Stelle registriert wurden. Gut zu lesen ist der an der Wand prangende Wahlspruch der Hapag: "Mein Feld ist die Welt", was viele Auswanderer gewiss als Verheißung empfunden haben werden.

Hier befindet sich auch der Forschungsbereich, in dem Besucher kostenfrei und mit fachlicher Anleitung in umfangreichen Datenbeständen nach Personen suchen können, die in die Neue Welt ausgewandert sind. Im Rahmen des Projekts "Links to your Roots" wurden sämtliche Hamburger Passagierdaten aus dem Zeitraum von 1850 bis 1934 digitalisiert - für die genealogische Forschung ein unschätzbarer Fundus.

Wenn der Besucher dann den mittleren Pavillon betritt, findet er sich zwischen Auswanderern wieder, die hier vor 100 Jahren auf die Abfahrt ihrer Schiffe gewartet haben. Sie sitzen auf Bänken, und wenn man sich ihnen nähert oder sich zu ihnen setzt, erzählen die lebensgroßen Puppen ihre Geschichte. "Hallo! Willkommen in der Welt der Auswanderer. Wir schreiben das Jahr 1889, seit sieben Jahren lebe ich in New York", sagt zum Beispiel ein jüdisches Mädchen, das aus Wilna stammt. Sie hat traumatische Erinnerungen an das Jahr 1881: "Zar Alexander II. wurde ermordet. Juden hätten dies getan, hieß es. Männer in Uniform kamen nachts in unsere Häuser, verschleppten Menschen und brachten auch viele um. Eines Morgens war Vater fort. Wir weinten, weil wir glaubten, die russischen Soldaten hätten ihn geholt. Erst einige Wochen später erzählte Mutter uns, dass Vater nach Amerika gegangen war." Später hatte er die Familie nachgeholt.

Hoch über den Puppen hängen Kugeln, die die Träume, Sehnsüchte und Hoffnungen der Auswanderer symbolisieren. Auf einem großen aufgeschlagenen Atlas können die Besucher mulitmediale Informationen über die Situation in den Herkunftsländern abrufen. Das Arbeitszimmer von Hapag-Direktor Albert Ballin wurde nach einem Foto originalgetreu rekonstruiert. Diese und weitere aufwendig inszenierten oder auch stilisierten Szenen, Video- und Audiosequenzen vermitteln an beispielhaften Situationen und Schicksalen Informationen über die Beweggründe der Auswanderer, die konkreten Bedingungen der Emigration, die Überfahrt, die Ankunft im Zielland und die geglückten oder auch misslungenen Versuche, in der neuen Heimat Fuß zu fassen. Die Ausstellung zeigt aber auch, dass Auswanderung keineswegs ein abgeschlossenes, sondern gerade in einem Stadtteil mit so hohem Zuwandereranteil wie der Veddel bis heute ein aktuelles Thema geblieben ist.

Alles wie früher - nur das Essen nicht

Die dritte Halle, die noch zum Teil aus originaler Bausubstanz besteht, nimmt ganz unmittelbar Bezug auf den historischen Ort. Wenn die Besucher hier eintreten, müssen sie sich selbst als Auswanderer registrieren lassen. Und erleben dann hautnah, wie die Emigranten vor 100 Jahren auf der Veddel gelebt haben: Der Weg führt direkt in den Schlafsaal, wo die Metallbetten, wenn der Andrang groß war, auch übereinandergestellt werden konnten. Die Betten, die hölzernen Trennwände, die Lampen, alles wurde hier so gestaltet, wie es auf historischen Abbildungen und Vorlagen zu finden war.

Weiter geht es in den Speisesaal mit rustikalen Tischen und Bänken. Hier hat man dann aus gutem Grund auf allzu viel Originalität verzichtet, denn das Speiseangebot im Museumsrestaurant ist schmackhaft und unterscheidet sich ganz erheblich von der einfachen Kost, die die Auswanderer vor rund 100 Jahren zubereitet bekamen, als es hier genauso nach feuchtem Putz und frischer Farbe roch wie in diesen Tagen.