Im Auto riecht es muffig. Draußen nieselt es, und obwohl Nadine das Gebläse angestellt hat, beschlagen die Scheiben von innen, und ich muss immer wieder mit dem Schwamm über die Frontscheibe wischen, damit sie beim Fahren die Straße sieht. Marie sitzt auf der Rückbank. Sie hat sich nach vorne gelehnt und ihren Kopf zwischen die Vordersitze gesteckt, sodass unsere Köpfe alle auf gleicher Höhe sind. Nadine und Marie sind meine besten Freundinnen. Wir kennen uns seit der Grundschule. Marie gibt Anweisungen, wie Nadine zu fahren hat. "Du musst über die Eisenbahngleise fahren." "Hier sind weit und breit keine Eisenbahngleise zu sehen." "Sie müssen aber gleich kommen. Da vorne ist schon das Ortsausgangsschild und kurz danach kommen die Gleise. Und dann müssen wir irgendwann links auf einen Baum achten, auf dem ein Pfeil ist. Dort geht es in den Wald." Marie hat sich den Weg von ihrem Bruder erklären lassen. Er hat ihr sogar einen Plan gezeichnet. Sie hält ihn alle halbe Minute unter die Deckenlampe, um nachzuprüfen, ob wir noch richtig sind. Jeder hier in der Gegend hat schon einmal von dem Licht gehört. Es gibt unzählige Erklärungen dafür, was oder wer dieses Licht ist: Reflexionen von Straßenlaternen, Lampen aus den letzten Häusern von Brieselang, Autoscheinwerfer auf den nahe gelegenen Landstraßen, die bis in den Wald hineinleuchten oder die phosphoreszierenden Augen einer Katze. Es gibt aber auch weniger harmlose Erklärungen.

Erklärungen, die unter der Kopfhaut prickeln, die einem Spiralen in den Magen drehen, wenn man sie hört. Da ist die Geschichte von dem Mädchen, das mit ihren Eltern in einem Haus am Waldrand gewohnt hat. Eines Tages, als sie im Garten spielte, sah sie ein Licht zwischen den Bäumen. Sie stieg über den Zaun und lief auf das Licht zu, aber es entfernte sich von ihr. Sie folgte ihm. Sie kam an diesem Abend nicht mehr nach Hause. Und auch nicht am nächsten. Es wurden Suchtrupps losgeschickt, aber sie blieb verschwunden. Erst sieben Jahre später wurde sie von zwei Waldarbeitern gefunden. Sie sah aus, als würde sie nur schlafen. Ermittlungen ergaben, dass sie im Sumpf versunken war. Durch den harten Winter und den Frost war sie an die Oberfläche gedrückt worden. Das Licht versuche noch heute, Menschen in den Sumpf zu locken, sagt man. Man erzählt sich auch, dass im Wald einmal eine Nervenklinik gestanden hat, die eines Nachts bis auf seine Grundmauern abbrannte. Alle Insassen kamen dabei ums Leben. Und es gibt eine weitere schreckliche Geschichte. Vor siebzehn Jahren wurde im Wald ein junges Mädchen auf bestialische Weise vergewaltigt und ermordet. Der Täter wurde nie gefasst. Das Licht ist die Seele des Mädchens, die mit Klagelauten durch den Wald irrt. Solange ihr Mörder lebt, findet sie keine Ruhe.

"Soll ich nicht doch lieber wieder umdrehen?", sagt Nadine. "Wir finden das sowieso nicht. Was wollen wir überhaupt hier draußen? Wir könnten irgendwo gemütlich ein Bier trinken und eine Tüte rauchen.""Weder Marie noch ich sagen etwas. Ich würde auch lieber umdrehen, aber da wir nicht antworten, fährt Nadine weiter. "Das sind die Bahngleise", sagt Nadine plötzlich, als es unter uns ruckelt. "Spürt ihr sie?" "Ja", sagen wir mit einer Stimme und unsere Köpfe nicken. "Und da vorne, das ist der Baum, da ist ein Pfeil drauf." Maries Stimme, ganz dicht an meinem Ohr. Nadine bremst ab. Tatsächlich, Marie hat richtig gesehen. Auf dem Baum ist ein Pfeil, der in den Wald zeigt. "Sieht ganz schön dunkel aus." "Los, bieg ab", flüstert Marie. Nadine biegt in den Waldweg ein. Sie fährt Schritttempo. Zweige streifen das Autodach und die Seitenfenster. Es sind unheimliche Geschichten, und es gibt sie in den unterschiedlichsten Versionen und Ausschmückungen. Keine dieser Geschichten lässt sich wirklich belegen. Sie könnten alle erfunden sein. Aber eine von ihnen könnte auch die wahre Geschichte sein, die Erklärung dafür, woher dieses Licht kommt. Wenn man die Geschichten über das Licht einmal gehört hat, verlassen sie einen nicht mehr. Sie haken sich im Kopf fest, wuchern in stillen Stunden und irgendwann ist es soweit: Man will das Licht mit eigenen Augen sehen, es reicht nicht mehr, nur die Geschichten und Erlebnisse der anderen zu hören. Wir kommen zu einem Parkplatz, auf dem bereits ein Auto steht. Als unsere Scheinwerfer es erfassen, sehen wir, dass es leer ist. "Da ist noch jemand auf der Suche nach dem Licht", sagt Marie und kichert nervös. Nadine stellt den Motor ab und schaltet die Scheinwerfer aus. Um uns herum ist es dunkel. Einen Augenblick lang sind wir alle still und lauschen auf das Knacken des abkühlenden Motors. "Ab hier müssen wir laufen", sagt Marie schließlich. Ich möchte nicht aussteigen. Ich bin die Ängstlichste von uns dreien. Trotzdem mache ich die Tür auf. Ich will nicht, dass die beiden meine Angst bemerken und mich damit aufziehen. Marie hat eine Taschenlampe dabei. Mit dem Lichtstrahl tastet sie suchend zwischen den Bäumen umher. "Da vorne", sagt sie und leuchtet auf eine Lücke zwischen den Bäumen.

"Das muss der Weg sein." Wir fassen uns an den Händen. Nadine ist in der Mitte. Ihre Handfläche ist trocken und warm. Ich bin froh, dass ich mich an ihr festhalten kann. Man kann den Wald riechen, dumpf, erdig und feucht. Der Boden unter unseren Füßen ist aufgeweicht, er gibt bei jedem Schritt nach und fabriziert schmatzende Geräusche. Mein Puls pocht dunkel und heftig unter meiner Haut. Das Nieseln ist in Regen übergegangen. Wir kommen an eine Abzweigung. Und an noch eine. Marie holt jedes Mal ihren Plan heraus, sieht ihn sich genau an und zeigt dann mit der Taschenlampe auf eine der Weggabelungen und sagt: "Hier lang. Wir müssen hier lang." Der Wald hat Gesichter und Stimmen. Wir hören die ganze Zeit Geräusche, die wir nicht einordnen können. Wir gehen mitten in diese Geräusche hinein. Wir fassen uns fester an den Händen. Aber das Licht ist nirgends zu sehen. Ob wir aus diesem Wald jemals wieder herausfinden? Ich habe überhaupt keine Orientierung mehr. Schließlich bleibt Marie stehen und knipst die Taschenlampe aus.

"Von dieser Stelle soll man es gut sehen können", sagt sie. Wir setzen uns auf einen umgestürzten Baumstamm. Meine Jeans klebt an den Oberschenkeln. Die Feuchtigkeit ist überall. Angst scheuert von innen an meinen Magenwänden. Um uns herum regnet es weiter in die Dunkelheit hinein. "Wie lange wollen wir hier warten?", flüstert Nadine nach einer Weile. "Vielleicht für immer", sagt Marie mit dunkler Stimme. Der Wald umschließt uns von allen Seiten. "Hänsel und Gretel, die gingen in den Wald …", fängt Marie plötzlich zu singen an. "Hör auf", zische ich. "…es war so dunkel und ach so bitterkalt …" "Marie, bitte", sage ich. "Du hast Angst", sagt sie und tippt mir ihre Fingerkuppen in den Nacken. "Hör auf", sage ich. "Hör bitte auf damit", aber Marie hört nicht auf, sie summt weiter. Ich drehe mich zu ihr um. "Patrick ist mit Melanie zusammen", sage ich. Ich sage ihr die Sätze direkt ins Gesicht hinein. "Ich habe sie zusammen im Cafe gesehen."

Mit einem Schlag ist Marie still. Ich hätte das nicht sagen dürfen, ich spüre es noch im selben Moment, aber ich habe mich nur gewehrt. "Johanna, musstest du …", sagt Nadine. Den Rest des Satzes lässt sie unausgesprochen. Irgendetwas hat gerade die Naht aufgetrennt, die uns zusammengehalten hat. Die Nähe verschwindet, obwohl wir eng nebeneinander sitzen. Es ist geschehen und nicht mehr rückgängig zu machen. Der Regen wird stärker. Man hört es in den Blättern der Bäume. Mir ist kalt, ich friere. Ich möchte hier weg, ich möchte, dass wir uns auf der Stelle wieder vertragen. Und plötzlich ist das Licht zu sehen. Ohne Vorwarnung. Ganz in der Nähe knackt etwas. Der Wind? Ein Ast? Ein Tier? Es gibt Geräusche, die alles bedeuten können. Marie kiekst kurz auf. Und schon ist die Panik da, flattert mit ihren Flügeln, und wir stieben kreischend auseinander. Ich achte nicht darauf, wohin ich laufe, und es ist mir egal, dass ich mit meinen Schuhen in Schlammpfützen trete. Ich will nur weg. Ich renne von dem Weg herunter ein langes Stück in den Wald hinein, Bäumen und Ästen ausweichend, im Ohr das Geräusch meines keuchenden Atems. Bis ich an einer Wurzel hängen bleibe. Mein Oberkörper ist schon einen halben Meter weiter, als ich merke, dass mein Fuß nicht nachkommt. In dem Moment beginne ich zu fallen. In Zeitlupe und gleichzeitig mit ungeheurer Geschwindigkeit. Es folgt ein Moment der Leere, Schwerelosigkeit, ein Aussetzen der Zeit. Dann knalle ich mit dem Gesicht geradewegs auf den Waldboden. Feuchtes, aufgeweichtes Laub, Tannennadeln. Nadine und Marie sind in eine andere Richtung gerannt. Ich bin alleine. Ich drehe mich auf den Rücken, betaste meinen Knöchel. Meine Augen sind verschmiert und flackern, es fällt mir schwer, die Umgebung scharf zustellen. Ich sehe nur Umrisse, und hinter jedem Baum scheint sich etwas zu bewegen. Ich atme tief durch, versuche mich zu beruhigen, doch es gelingt mir nicht. Dann meine ich Nadine zu hören, wie sie meinen Namen ruft. Mehrmals. Kurz darauf ist da auch die Stimme von Marie. Ich will antworten, aber aus meinem Mund kommt nur ein Ächzen, ein Geräusch, das ich nie zuvor von mir gehört habe, von dem ich nicht wusste, dass es in mir steckt. Und dann ist es wieder still. Es ist nichts mehr zu hören, außer das Ticken meines Herzens. Gerade so, als habe ich mir ihr Rufen nur eingebildet. Ich lausche angestrengt in die Stille hinein, aber es bleibt ruhig. Bis ich höre wie Türen zugeschlagen werden und ein Auto angelassen wird. Durch die Bäume ist der schwache Schein eines Scheinwerfers zu sehen. Kurz darauf rote Rücklichter, die sich langsam entfernen. Sie werden mich doch hier nicht zurücklassen … Mein Magen krampft sich zusammen. Das können sie doch nicht machen! Ich will nicht glauben, dass sie abhauen, ohne auf mich zu warten. Ohne mich zu suchen. Ich versuche aufzustehen. Ein heißer Schmerz schießt von meinem Knöchel bis hoch zu meinen Augenlidern, ich kann kaum auftreten. Ich humple langsam in die Richtung, in der ich die Stimmen gehört und die Autoscheinwerfer gesehen habe. Mein Handy liegt in Nadines Auto. Ich kann noch nicht mal jemanden anrufen, der mich abholt. Irgendwann gelange ich auf einen Weg zurück. Und noch viel später komme ich schließlich zum Parkplatz. Nadines Auto ist noch da. Aber der andere Wagen ist verschwunden. Der Regen kommt in dicken Schnüren vom Himmel herunter. Im Auto sitzen zwei Personen. Sind das Marie und Nadine? Aber sie bewegen sich nicht. Oder spielen mir meine Augen und die Dunkelheit einen Streich? Einige Meter vor dem Auto bleibe ich stehen. Da ist die Angst wieder, berührt mich im Gesicht, greift nach mir. Ich zittere am ganzen Körper. Ich zwinge mich, zum Auto zu sehen. Irgendwo, am Rand meiner Gedanken, ist ein Rest Vernunft, aber ich komme nicht an ihn heran, ich kann mich nicht beruhigen. Da sind zwei Köpfe, die an den Nackenpolstern lehnen. Das müssen Nadine und Marie sein. Aber warum bewegen sie sich nicht? Warum starren sie die ganze Zeit nach vorne? Ist das einer ihrer doofen Scherze? Wollen sie mir Angst einjagen? Werden sie gleich aus dem Auto springen und mich auslachen, wenn sie mich sehen? Ich kann keinen Schritt mehr weitergehen. Ich bin unfähig, mich zu bewegen. Etwas Warmes, Nasses läuft mir am Gesicht und dann den Hals hinunter. Ich scheine zu bluten oder zu weinen, aber es ist egal. Es ist alles egal, ich will einfach nur, dass das hier aufhört.

  • Ausgewählte Autoren lesen ihre Kurzgeschichten jetzt als Hör-Stücke vor herunterzuladen als MP3-Datei unter www.abendblatt.de/schriftstuecke