Harry Herriegel hatte einen Klumpfuß und ein Loch im Herzen, aber das hinderte ihn nicht daran, sich in eine asiatische Prostituierte zu...

Harry Herriegel hatte einen Klumpfuß und ein Loch im Herzen, aber das hinderte ihn nicht daran, sich in eine asiatische Prostituierte zu verlieben.

Ich kannte Harry seit der Abitursklasse. Er war ein Kraftzwerg, obwohl er keinen Sport treiben durfte. Ein kleines Muskelpaket mit großen musischen Talenten, ein ausgezeichneter Zeichner vor allem. Nie hätte man ihn ohne seinen Tuschestift angetroffen. Kein Bierdeckel, keine Quittung war vor seinen "Kritzeleien" sicher. Und er war ein Gutmensch, durch und durch. Natürlich war er vom Sportunterricht befreit, und ich selbst hatte Meniskusprobleme, und so kam es, dass wir wieder einmal im Pommesdunst vom "Dreckspatz" saßen und Milieu-Studien betrieben, während die anderen über Böcke springen und lächerliche Figuren auf Turnmatten hinlegen mussten.

Der Schmuddel-Imbiss "Dreckspatz" lag unterhalb des städtischen Bordells, und von der Fensterfront aus hatten wir einen fantastischen Blick auf den Eingang des Etablissements. Wir konnten die Typen ins Freudenhaus flitzen und eine halbe Stunde später wieder herauskommen sehen. Manche sahen dann aus, als ob sie soeben die Völkerschlacht bei Leipzig alleine entschieden hätten. Mit triumphalem Glanz in den Augen zogen sie ihren Krawattenknoten und anderes zurecht. Andere wirkten so entrückt, als hätten sie gerade einen Stern in einer fernen Galaxie gekauft. Dann gab es noch die Nervösen, die schamvoll umherguckten und sich mit Lichtgeschwindigkeit vom Tatort entfernten. Harry hielt mit schnellen Strichen den Vorher/Nachher-Effekt fest, und wir lachten uns krumm dabei. Selber reinzugehen getrauten wir uns nicht, obwohl uns das Fell an allen Ecken juckte.

Tragisch wurde es erst, als Harry sich in Ross Vita verknallte. So nannten wir die kleine Asiatin mit den hohen schwarzen Lackstiefeln, die öfter im Imbiss auftauchte, eine Cola trank und eine Stange Zigaretten wegqualmte.

Wir nannten sie Ross, weil sie für uns das stolzeste Pferdchen im städtischen Stall war, und Vita, weil wir uns ständig Geschichten zu ihrem Vorleben ausdachten. Besonders Harry liebte es, die wildesten Spekulationen anzustellen.

"Ich wette, sie ist aus nackter Armut hierher gekommen. Vermutlich direkt aus den Reisfeldern von Taipeh geflüchtet." Noch während er das sagte, sah man Ross Vita wie Gott sie geschaffen hat, lediglich mit hohen Gummistiefeln und einem Strohhut bekleidet in einem feuchten Reisfeld stehen. Dass mein orthopädisches Attest als Zeichenpapier herhalten musste, war der einzige Kunstfehler dabei.

"Harry", sagte ich, "Taipeh ist die Hauptstadt von Taiwan. Ich glaube nicht, dass da Reis angebaut wird."

"Egal, du weißt, was ich meine."

Klar, wusste ich das. Harry war verliebt. Er wurde rot wie ein Nikolausmantel, wenn Ross Vita auftauchte. Dann bebte sein löchriges Herz. Harry mochte es melodramatisch, weshalb er Ross Vita gern in opferähnlichen Situationen darstellte. Zum Beispiel, wie sie gerade - in Lackstiefeln - von ihrer Mutter - in Autoreifenschlappen - an einen feisten Mädchenhändler (Schlangenhautschuhe) verkauft wurde, der schon einen Sack voller gestiefelter Mädchen im Schlepptau hatte. Als sie mit dem fetten Geländewagen davonbrausten, starrte Ross Vita händeringend zur Mutter, doch die Familie musste überleben. Es gab kein Zurück.

Von derartigen Schmonzetten einmal abgesehen machte ich mir zunehmend Sorgen um Harry, vor allem, weil er an einer "großen Sache" arbeitete, von der er mir nichts erzählen wollte.

"Ich hol sie da raus", murmelte er, während wir das ständige Rein und Raus beim Bordell beobachteten. Erst dachte ich, er meinte mit dem Zeichenstift. Aber dann wurde mir klar, dass es ihm ernst war.

"Harry, du hast einen Knall", sagte ich.

"Wieso? Das ist doch keine Zukunft für so ein hübsches Mädchen."

Ich schlug mir gegen die Stirn. "Ach, und was für eine Zukunft willst du ihr bieten? Die macht das wegen der Kohle. Hast du vielleicht Kohle?"

"Ich hol sie da raus!", wiederholte er nur. "Wenn du's nicht glaubst, sei am Sonnabendnachmittag hier. Gegen vier."

"Am Sonnabend? Himmel, Harry, da ist Nikolaustag!"

"Eben. Was glaubst du, wem da alles die Rute juckt. Mann, allein die Vorstellung geht mir gegen den Strich ..."

Er kritzelte auf die abgegriffene und stark befleckte Speisekarte eine melodramatische Darstellung seines Innenlebens, das mit Worten nur schwer wiederzugeben ist.

Am Sonnabend klebte ich kurz vor 16 Uhr an der fettverschmierten Scheibe der Imbissstube und wartete gespannt. Lange Zeit tat sich nichts, und ich dachte schon, Harry hätte mich verschaukelt. Aber dann konnte ich eine kleine Gestalt von Hertie her kommend in die schmale Seitenstraße mit den vielen Männern einbiegen sehen. Es war ein kleiner Nikolaus, der da auf den Bordell-Eingang zuhinkte. Sein weißer Bart leuchtete in der hereinbrechenden Abenddämmerung wie ein Wölkchen, das vom Himmel gefallen war und nun in der Stadt umherirrte. Über der Schulter des roten Mantels baumelte ein prall gefüllter Jutesack. Harry zog das rechte Bein nach, machte jedoch einen entschlossenen Eindruck. Nicht mal einen Blick warf er runter zum "Dreckspatz", wo ich mit der Nase das Bratfett am Fenster verschmierte. Die Bordellbesucher beachteten ihn nicht. Kein Aufsehen, lautete die Devise. Jeder war froh, wenn er selber ungesehen blieb. Das unterstellte man auch dem Nikolaus.

Eine halbe Stunde lang tat sich wieder nichts. Ich wurde unruhig. Okay, falls Harry heute sein erstes Mal erlebte, konnte das schon dauern. Vielleicht musste er selber warten. Aber er wollte Ross Vita ja herausholen. Du liebe Güte!

Dann kam Bewegung in die Szenerie. Fenster in den Zimmern wurden aufgerissen, Frauen starrten aufgeregt auf die Straße, und im Bordelleingang gab es einen kleinen Tumult. Schließlich kam der kleine Nikolaus hinkend aus dem Eingang marschiert, nicht schnell, nur entschlossen, und der Sack auf seinem Rücken beulte sich wild in alle Richtungen aus. Harry war stark, aber der Sack war stärker. Er traf ihn ins Kreuz, Harry schnellte in den Hüften vor und knickte in den Knien ein. Als er inmitten der kleinen Seitenstraße kniete, mit nikolausmantelrotem Kopf und schweißglänzender Stirn, schaute er zum Imbiss herunter. Ich weiß nicht, ob er mich sehen konnte, aber sein Blick sagte: "Ich hab's getan! Ich liebe sie doch ..."

Dann kippte er zur Seite, der Sack plumpste vollends zu Boden, und Ross Vita kam furchtbar wütend herausgekrochen. Sie trug ihre hohen Stiefel und war nur mit einem schwarzen Tanga bekleidet. Bei Temperaturen um den Gefrierpunkt. Sie richtete sich auf, schrie hysterisch in weiß-Gott-welcher asiatischen Sprache und begann, auf den am Boden liegenden Harry einzutreten. Harry rührte sich nicht. Ich schoss aus dem Imbiss heraus und die kleine Straße hoch. Ross Vita heulte und trat zu. Ich schubste sie weg und beugte mich zu Harry hinunter. Er lächelte bei geschlossenen Augen. Aber sein Lächeln war starr, und das weiße Wölkchen war ihm unter das Kinn gerutscht. Ich tätschelte seine Wange.

"Harry, du Idiot, was hast du gemacht?"

"Ich ... ich hab sie ..." Weiter kam er nicht.

Dann begann es zu schneien. Geldscheine fielen vom Himmel. Hunderte, wenn nicht Tausende wurden von johlenden Frauen aus den Fenstern geworfen. Einer landete auf Harrys Gesicht, als wollte er ihm die Augen bedecken. Ich nahm ihn weg und sah, dass es eine Tuschezeichnung war, täuschend echt, einer Dollarnote nachempfunden. Und wie alle anderen Scheine von Harry persönlich mit der ganzen Liebe des Toulouse-Lautrec vom "Dreckspatz" gezeichnet. Es muss Wochen, vielleicht Monate gedauert haben. Scheine von unterschiedlichen Beträgen flatterten umher, aber alle hatten sie eines gemeinsam: Sie zeigten Ross Vita - schön wie Mona Lisa. Nur, das kleine asiatische Freudenmädchen hatte es nicht verstanden. Harrys Liebesgabe wehte am Nikolausabend durch die Straßen der Stadt. Es war ein Sonnabend. Ein Tag mit einem Loch im Herzen. So melodramatisch. Es hätte ihm gefallen.